Aus der Hölle zurück
aus mit uns. Sie erschießen uns auf der Stelle. Überall wimmelt es von Truppen auf dem Rückzug. Es ist schwer, sich zu verbergen. Unsere einzige Hoffnung besteht darin, daß uns früher oder später die Amerikaner einholen.« So sah es Zbyszek. Es fiel mir schwer, ihm zuzustimmen. Seine Einstellung kam mir zu passiv vor. »Und was wird, wenn sie uns alle fertigmachen wollen, wenn keine Zeit mehr zur Flucht bleibt?« fragte ich. Zbyszek schnitt die Diskussion rücksichtslos ab: »Du hörst doch wahrscheinlich, was am Ende der Kolonne passiert! Ich haue nicht ab. Ich warte noch!« Ich ließ Zbyszek in Ruhe. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht änderte sich die Lage in ein, zwei Tagen. Und dann … »Na gut, warten wir eben«, brummte ich unzufrieden vor mich hin.
In der dritten Nacht unseres so intensiven Evakuierungsmarsches passierten wir Landshut, und gegen Morgen befanden wir uns in der Nähe von Mühldorf. Die Reihen der nahezu tausendköpfigen Kolonne, die aus Regensburg ausgerückt war, schmolzen sichtlich zusammen. In der Nacht hatten die SS -Leute die Verfolgung einer Gruppe von etwa fünfzehn Häftlingen aufgenommen, die beim Marsch durch ein Waldgebiet versucht hatten, im Schutze der Dunkelheit zu fliehen. Es war zu einer Schießerei gekommen, zwei oder drei Häftlinge hatten ihr Leben gelassen. In dem Durcheinander hatte eine ziemlich große Gruppe von Russen die Gelegenheit genutzt und war geflohen. Die SS -Posten waren wütend.
Plagge, der immer herrisch und eingebildet herumstolziert war, wurde etwas kleinlauter. Er hörte auf zu brüllen, zu prügeln und uns anzutreiben. Das Hinmorden der Schwächsten übernahmen jetzt seine Untergebenen. Plagges getrübter Blick und sein aufgedunsenes Gesicht – so entdeckte ich ihn vor dem Weitermarsch – verrieten sein unablässiges Saufen und seine ins Wanken geratene Selbstsicherheit. Er war sich darüber klar, daß seine Situation und die seiner Kumpanen immer schwieriger wurde. Die in den Behältern der Feldküchen mitgenommenen Lebensmittelvorräte waren längst aufgebraucht. Die letzten Kartoffeln waren am Vortag gekocht und an alle Häftlinge verteilt worden. Jeder hatte zwei oder drei Stück bekommen. Wir kochten nur noch Tee.
Der Hunger machte uns immer mehr zu schaffen. Unterwegs rissen die Häftlinge frische, gerade erst sprossende Zweige von den Bäumen, um darauf herumzukauen. Aber auch das war verboten, und die SS -Posten zogen einem kräftig ein paar über den Buckel, wenn sie jemanden bei diesem »Vergehen« erwischten. Schwächere Häftlinge unternahmen während des Marsches manchmal verzweifelte Fluchtversuche. Sie versteckten sich dicht am Weg in Büschen, Gräben oder irgendwelchen Löchern und Geländevertiefungen. Um nicht die letzte Kraft zu verlieren, wollten sie lieber die Flucht riskieren, als weiterzuziehen. Der Eilmarsch brachte selbst die Stärksten zur Erschöpfung. Einigen gelang die Flucht, andere wurden mitleidslos erschossen. Die Gegebenheiten für eine Flucht waren besser, wenn der Mond nicht schien, wenn es bewölkt war oder wenn sich nächtlicher Nebel breitmachte. Bei klarem Himmel erwischten die Wachposten, die die Kolonne eskortierten, einen Flüchtling ziemlich schnell.
Während des Marsches in der vierten Nacht verschwanden drei SS -Leute des Evakuierungskommandos, unter ihnen unser alter Küchenchef. Morgens stellte sich heraus, daß auch ein deutscher Kapo abgehauen war. Die verbliebenen SS -Posten wurden anscheinend etwas friedlicher. Aber der Schein trog. Vom Ende der Kolonne hallten wieder häufiger Gewehrschüsse zu uns herüber. Die Wachtposten gaben den Schwächsten den Rest.
Der nächste Aufenthalt, jenseits des kleinen Städtchens Neuötting, zog sich etwas länger hin. Die am Leben gebliebenen Häftlinge ruhten sich in einer großen requirierten Scheune aus. Ein Häftling mit einer Armbinde des Roten Kreuzes half seinen Gefährten, die wundgelaufenen Füße zu verbinden. Es war ein russischer Sanitäter oder Arzt. Ich bewunderte ihn. Er war selbst durch den Marsch erschöpft, half aber dennoch den anderen.
Mit Genehmigung des stellvertretenden Kommandanten kochten wir für alle Mehlsuppe, in die wir mehrere Kilo alte Kartoffeln, Rüben und ein paar angefaulte Kohlköpfe hineinwarfen. Diese »Zutaten« hatten wir vom Besitzer des Gehöfts bekommen, auf dem wir untergebracht waren. Einer der russischen Gefangenen brachte uns heimlich eine große, geschlachtete Katze. Wir zogen ihr das Fell ab,
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