Aus der Welt
einem besonderen Sicherheitsbereich innerhalb des Terminals. Dort checkte man mich einzeln ein und brachte mich durch die Sicherheitskontrolle. Danach begleitete mich jemand vom Flughafenpersonal in eine kleine Lounge, die von der Abflughalle abging. Dort gab es eine Bar mit Selbstbedienung. Clark, der darauf bestanden hatte, mich bis hierher zu begleiten, fragte: »Darf ich Sie zu einem Bier einladen?«
Er drückte mir eine Flasche Labatt’s in die Hand.
»Waren diese Heimlichkeiten wirklich notwendig?«, fragte ich.
»Wahrscheinlich nicht – aber heute Mittag hat die Calgary Sun eine Belohnung von 10 000 Dollar ausgesetzt. Sie steht jedem zu, der ihr die ›eigenbrötlerische Bürgerwehrlerin‹ nennt. Da wollte ich kein Risiko eingehen. Außerdem verdienen Sie besonderes Geleit – und ganz nebenbei kann ich mich so überzeugen, dass Sie auch wirklich aus der Stadt verschwinden.«
Er stieß mit mir an.
»Wie fühlen Sie sich, Frau Professor?«
»Müde – trotz der zwei Nächte in einem guten Hotel.«
»Wundern Sie sich nicht, wenn Ihnen die Sache noch mehrere Tage nachgeht. Man kann so etwas nicht so leicht abschütteln.«
»Ich werd’s mir merken.«
»Und wenn Sie Albträume bekommen, denken Sie daran: ›Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.‹«
»Das ist doch Quatsch, Sergeant«, sagte ich. »Und das wissen Sie auch.«
Er wirkte kurz überrascht, zuckte dann die Achseln und nahm noch einen Schluck Bier.
»Das wär’s dann wohl mit meinen tiefsinnigen Bemerkungen.«
»Heben Sie sich die lieber für die nächste ›eigenbrötlerische Bürgerwehrlerin‹ auf.«
»Ich bringe den Spruch lieber noch mal, wenn Sie wieder da sind. Vielleicht wollen Sie ihn ja dann hören.«
»Wer weiß«, erwiderte ich.
Aber ich wusste, dass ich nicht mehr nach Calgary zurückkehren würde.
Doch was die Albträume anbelangte, hatte Clark recht. Sie kamen, kurz nachdem ich in Berlin gelandet war. Ich übernachtete in einem billigen Hotel in Berlin Mitte und litt immer noch unter dem Jetlag. Ich versuchte, mich allein in dieser fremden, tristen Stadt zurechtzufinden, deren Sprache ich nicht sprach. Als ich dort in meiner dritten Nacht um vier Uhr früh hochschreckte, sah ich vor meinem inneren Auge nichts als Coursens blutige Kehle, seine blutdurchtränkten Kleider, seinen starren Blick, in dem noch die ungeheure Angst seiner letzten Minuten stand. Er war wirklich ein Monster, und ich konnte mir nicht im Geringsten vorstellen, wie er so etwas Abartiges tun und gleichzeitig seinen Alltag bewältigen, Gottesdienste feiern, sich dermaßen selbstgerecht aufführen und seine Motivations- CD s anhören konnte. Und in jenem furchtbaren Moment um vier Uhr morgens, als ich Coursens durchgeschnittene, blutende Kehle im Kopf hatte, konnte ich nur noch eines denken, nämlich: Diesen Anblick werde ich nie mehr vergessen.
Am nächsten Tag war es heiter und sonnig, also beschloss ich, meine Albträume bei einem langen Spaziergang »Unter den Linden« zu vergessen. Ich bog hinter dem Brandenburger Tor links ab und erreichte ein riesiges Gelände mit grauen Steinstelen – das Holocaust-Mahnmal. Darin herumzulaufen, war eine verstörende Erfahrung, da die Stelen aufgestellt waren wie Särge auf einem Friedhof. Je tiefer man in dieses Labyrinth vordrang, desto mehr wurde man davon verschlungen. War man etwa fünfzehn Schritte hineingegangen, wurde man davon verschüttet – ein grauer Steinblock nach dem anderen verstellte die Sicht, den Himmel, jeglichen Ausblick auf etwas, das jenseits dieser unnachgiebigen Felsblöcke lag, die einen unter sich begraben wollten.
Dieses Mahnmal für ein so unaussprechliches Verbrechen war überwältigend. Es sagte alles, ohne zu versuchen, etwas zu sagen. Sein Schöpfer hatte begriffen, dass Trauer – sei sie nun kollektiv oder privat – die Menschen unter sich begräbt. Doch wie befreit man sich aus einem Grab?
Ich wusste es auch nicht, bemühte mich jedoch erneut, die Tage zu überstehen.
Als ich den Prenzlauer Berg entdeckte, fand ich Berlin gleich viel attraktiver. So hieß ein renovierter Stadtteil nördlich des Bezirks Berlin Mitte, in dem sich die bürgerliche Vernunft des 19. Jahrhunderts auf das neue Jahrhundert vorbereitet hatte und der sich nun in der einst geteilten Stadt offenbar neu erfand. Hier wohnten viele junge Familien, das war hart. Aber am Schwarzen Brett des wirklich ausgezeichneten English Bookshop Saint Georges entdeckte ich eine Anzeige für eine kleine
Weitere Kostenlose Bücher