Aus heiterem Himmel: Ein Südstaaten-Krimi von TrueBlood-Autorin Charlaine Harris (Aurora Teagarden) (German Edition)
einmal kommen sehen.
„Dann glaubst du diesem Arzt?“, fragte Shelby sehr beherrscht und vernünftig.
„Natürlich! Du kennst doch Angel! Du und sie, ihr seid wie die männliche und die weibliche Seite ein und derselben Sache.“
„Nur ist die weibliche Hälfte schwanger und die männliche hatte eine Vasektomie.“
„Dann lass dich testen!“, schnauzte ich ihn an. „Was ist dir lieber? Beim Arzt ...“ Einen Moment lang hing ich fest, wusste nicht, wie ich mich ausdrücken sollte. „Beim Arzt eine Probe im Becherchen abzugeben, oder deine Frau zu verdächtigen, sie hätte dich betrogen?“
„Wenn man es so sieht ...“ Zu meinem großen Erstaunen nahm er mich in die Arme und drückte mich fest.
In diesem Moment lernte ich etwas über die Launen der Chemie. Ich liebte Martin, und Shelby liebte Angel. Trotzdem lag eine Sekunde lang ein Knistern in der morgendlichen Stille meiner Küche, und ich war mir allzu sehr der Tatsache bewusst, dass ich keinen BH trug. Als ich den Kopf hob, sah ich Shelbys Augen dunkler werden. Aber dann änderte der Strom zwischen uns blitzartig die Richtung, und wir stoben auseinander.
Himmel! Wenn wir jetzt so taten, als wäre nichts gewesen, würde das alles nur noch schlimmer machen.
„Das ...“, meine Stimme klang schwach, ich musste mich erst einmal räuspern. „Das sollten wir in Zukunft wohl lieber sein lassen.“ Ich wandte mich dem Küchentresen zu und trank einen Schluck Kaffee.
Shelby war ganz still geworden. Ich warf ihm über die Schulter hinweg einen hastigen Blick zu. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt und auch die Arme nicht sinken lassen. Sie waren immer noch sehnsüchtig ausgestreckt. „Shelby?“, fragte ich nervös.
Er zuckte zusammen. „Alles klar.“ Auch er musste schlucken. „Martin würde dich umbringen und Angel ganz sicher mich. Wir hätten es sogar verdient.“
Hastig schlang ich meinen altbewährten Mantel aus Nettigkeit und guter Erziehung um mich. Ich hatte nie und nimmer zu einem dieser Menschen werden wollen, die ich heimlich verachtete: Menschen, die ihre Versprechen nicht hielten.
„Wir sollten uns lieber beeilen“, verkündete ich munter. „Ich muss zur Arbeit, und du weißt ja, wie lange es dauert, Madeleine einzufangen.“
Der Anblick der rosa geschmückten Madeleine entpuppte sich als seltsamer Auftakt zu einem mehr als seltsamen Tag. In der Bücherei schien jeder Mitarbeiter mit dem falschen Fuß aufgestanden zu sein, selbst Sam Clerrick. Während ich meine Sachen in den Spind räumte, faltete er gerade drinnen in seinem Büro Lilian Schmidt zusammen, weil sie am Vortag einer Besucherin gegenüber unhöflich geworden war. Seine aufgebrachte Stimme war bis in den Aufenthaltsraum der Angestellten zu hören. Ich zog fragend die Brauen hoch. Perry Allison, der ebenfalls gerade erst gekommen war, zuckte die Achseln. „Was will man da machen?“, sollte das wohl heißen.
Perry Allison war Sally Allisons einziges Kind. Wir hatten früher schon zusammengearbeitet, vor etwa drei Jahren. Dann war Perry aufgrund überwältigender persönlicher Probleme, die durch Drogenmissbrauch noch verstärkt worden waren, erst im Krankenhaus und dann in einer Rehaklinik in Atlanta gelandet. Beides war ihm ausgezeichnet bekommen. Er hatte sich so gut gemacht, dass Sam nach langem Nachdenken und zähen Verhandlungen vor Kurzem sogar bereit gewesen war, ihn wieder einzustellen. Vorerst nur auf Probe, aber immerhin.
Perry, der ungefähr in meinem Alter war, hatte mir früher oft Angst eingejagt. Inzwischen neigte ich aber dazu, ihn für genesen zu halten. Er wirkte sehr ausgeglichen und schien sein Leben gut im Griff zu haben. Er war dunkelhaarig, mit einer hübschen modischen Frisur: oben auf dem Kopf sehr kurz, an den Seiten und hinten länger. Er hatte die braunen Augen seiner Mutter, die durch seine ebenfalls topmodische Brille mit dem Metallgestell wunderbar zur Geltung kamen. Er war dünn wie ein Spargel. In den gestärkten Hemden und leuchtenden Seidenkrawatten, die er sich als Arbeitsuniform auserkoren hatte, sah er jedoch immer gut aus.
Wir beide schlossen unsere Spinde ab und versuchten, Sams erhobener Stimme nicht allzu auffällig zu lauschen. Währenddessen wurde mir klar, dass meine Vorbehalte in Bezug auf Perry mittlerweile so gut wie verschwunden waren. Anfangs war es mir schwergefallen, mit jemandem zusammenzuarbeiten, vor dem ich früher Angst gehabt hatte. Im Grunde war ich jeden Tag sehr angespannt zur Arbeit gegangen.
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