Aus Liebe zum Wahnsinn
nicht recht? Hat sich der Individualismus nicht langsam mal überholt? Sicher: Sich mit der eigenen Seele verabreden, sich nicht verbiegen, fühlen, wer man ist – alles tolle Sachen. Andererseits: Was, wenn das, was man da entdeckt, gar nicht so toll ist? Also: Ist es Flucht? Resignation? Der Romanheld spricht von der großen Müdigkeit freilich erst, nachdem er eine Tellerwäscherkarriere hingelegt hat. Selbstauflösung als Silver-ager-Karriere.
Heute haben wir drei Töchter und drei Söhne. In
dieser
Reihenfolge. Andersrum, sagt meine Frau, wäre es nie so weit gekommen. Wenn wir also erst die Jungs, dann … Wirklich? Egal. Denn, was das heißt, ist: Ja, es gibt vielleicht wirklich so eine Grenze dessen, was ein Leben, ein Mensch, eine Familie verträgt. Ob drittes oder siebtes Kind. Ob Fernbeziehung, ADHS oder Höllennachbarn. Irgendwann reicht’s. Andererseits: Das ist Quatsch.
Ein Pizzateig muss ordentlich durchgeknetet werden. Ein bisschen wütend walkte ich im Teig. Janet, dieses Trampeltier.
»Wie soll es denn hinter dieser Erträglichkeitsgrenze aussehen?«, fragte ich Janet. »Was kommt danach? Wenn keiner mehr kann?«
»Das will ich gar nicht wissen«, schnaubte sie. »Mir reicht die ständige Zerreißprobe. Tatsächlich zerrissen zu werden brauche ich nicht auch noch.«
Unser Leben ist hoffnungslos überladen, ja. Aber die Frachtpapiere, die das zulässige Gesamtgewicht ausweisen, haben wir doch längst aufgegessen, vorsichtshalber. Es gibt keine klare Grenze. Wir tanzen ständig auf dem Grat, auf der Sorgenlinie, auf der heißen Herdplatte. Drei Dinge verschaffen mir dabei Leichtigkeit.
Erstens: Es bleibt mein Leben. Egal, wie sehr Kinder und Familie den Tag diktieren: Derjenige, der vielleicht völlig überfordert in der Mitte des Chaosstrudels steht, bin immer noch ich. Mit einem eigenen Leben, mit eigenen Freiräumen – egal, wie klein sie sind. Wir sind eben nicht bloß Steigbügelhalter für das Leben unserer Kinder.
Zweitens: optimistische Resignation. Natürlich haben wir unsere Zukunft selbst in der Hand, müssen sie gestalten, uns dafür ins Zeug legen und so weiter. Trotzdem plädiere ich für ein wenig mehr Schicksalsergebenheit. Und zwar eine nach vorne gerichtete. Also nicht: Das ist halt so passiert, da kann ich auch nichts dafür, sondern: Ja, es wird. Es wird doch ohnehin. Und meistens wird es auch noch gut.
Drittens: Es geht vorbei. Auch wenn in meinem Leben derzeit kein Platz ist für Weltreise/Zweistunden-Cappuccino/den großen Zweifel: Es geht vorbei. Und damit meine ich nicht gleich das ganze Leben. Kinder und Familie sind heute eine Teilzeit-Lebensrolle. Danach kommt was anderes. Was auch immer.
Am Ende schmeckte Janet die Pizza. Natürlich. Das war, sagte sie mit vollem Mund, nicht so ein Edinburgher Fast-Food-Kram, nicht diese dickteigigen Dinger. Wir, Meisteritaliener, nickten still in uns hinein. Natürlich, das war ja auch die Pomarola von Michelangelo, das Rezept von Zia Teresina, die toskanische Salami vom Schwiegervater. Dann sagte Janet: »Das ist New-York-Style-Pizza.«
Gegenüber einer Polizeistation zu wohnen ist kompliziert. Es suggeriert Sicherheit, die tatsächlich aber überhaupt nicht existiert. Ausgerechnet dort, direkt vor der Polizeistation von Leith wurden uns alle vier Autoreifen aufgeschlitzt (»Bloody Germans!«). Und als ich wegen einer kleinen Wohnungsreparatur ein paar Schrauben brauchte – es war Sonntag – und sie aus alten Holzlatten aus einem Baucontainer unten auf der Straße schraubte, tauchten sofort zwei Bobbys von gegenüber auf und nahmen tatsächlich meine Personalien auf: Das wäre nicht mein Müll. Wenn da jeder käme. Ich solle das lassen.
Bleibt man hinter der Fensterscheibe, ist es toll, eine Polizeistation gegenüber zu haben. War mir langweilig, konnte ich rausgucken, darauf warten, dass etwas passiert. Dass etwa ein Streifenpolizist in Blaulichtgeschwindigkeit zu seinem Wagen rast. Vielleicht höre ich sogar ein paar Funkspruchfetzen, »lingering crowd«, »knifer«, »binge drinking« oder gar »gun-toting«? Und schon geht im eigenen Kopf der Vorhang auf: »Schnell auf die Plätze«, drängt der Filmvorführer, wo man denn so lang gewesen sei, »die Werbung ist schon lang durch. Der Hauptfilm hat schon begonnen! Gleich wird der Polizeiwagen am Ort des Geschehens eintreffen und dann … Aber sehen Sie selbst. Bitte sehr.«
Oder ich schaute den adretten Bobbys beim Rein- und Rausstolzieren zu.
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