Aus Liebe zum Wahnsinn
ihm im zweiten Stock. Er ist der Erste, den ich kenne, bei dem im Wohnzimmer fortwährend der Computer läuft – und zwar kein Laptop. Jaja, sagt Dave, Deutschland und München und Oktoberfest. Er habe dort ja schon mehrere Stein getrunken. So richtig traditionell.
»Stein?«
»Ja, Stein«, wiederholt Dave, das müssten wir doch kennen. »Das ist doch deutsch. Stein.«
»Ja, das ist schon deutsch. Aber was soll das heißen?«
»
Stein eben.« Und Dave probiert ein wenig an der Aussprache herum. Es bleibt aber »Stein«. Er hebt in Oktoberfestmanier Unterarm samt Ellbogen. Wir grinsen, da habe er sich betrunken wohl einen Bären aufbinden lassen, »Stein« heiße »stone«, »brick«, vielleicht noch »rock«, mehr aber nicht. Dave dreht sich zum Computer, googelt »Stein« und »Oktoberfest«, und tatsächlich kommen Treffer wie »Shop our German Steins«, »The official Oktoberfest Stein«, die Familien-Humpen-Packung »Case of 6 Steins« oder auch der »Pretzel Stein«, ein Maßkrug mit Brezelhenkel, ein STEIN -Krug eben
.
Gibt es ein Touristen-Deutsch, das nur die Touristen und einige Tourishop-Inhaber sprechen? Eine Parallelwelt von Steins und potato dumplings, new-swan-rock und felt hats mit goatee beards? Im Hofbräuhaus jedenfalls bekäme man problemlos ein Bier, wenn man ein »Stein« bestelle, behauptet Dave. Und zwar ein richtiges, nicht so eine Tennent’s-Brühe.
Das mit den Tennent’s – wir würden auch zu gern wissen, wo die eigentlich herkommen, und weihen Dave in das Mysterium der Dosenwiese ein. Er googelt: nichts.
Am Ende wird auch Dave sammeln. Er wird Dosen finden, da sind wir schon längst nicht mehr vor Ort. Immer Tennent’s, immer Pints. Immer randvoll, originalversiegelt, immer geheimnisvoll. Und Dave wird es auch sein, der das Geheimnis um die Dosen schließlich auflösen wird. Aber erst Monate später.
Großbritannien, balance-of-power-Land, hat viele wunderliche Geschäfte. Auf der einen Seite diese Secondhand-Wiederverwert-Probono-Shops. Auf der anderen Seite: Fish’n’Chips-Läden, die einem sogar den Schokoriegel frittieren. Dann nimmt man Mars, Twix, Bounty, Snickers, Kit-Kat aus dem Regal und reicht ihn über die Theke: »Deep fried, please.« Der Fish’n’Chips-Mann packt den Riegel aus, lässt ihn in die Panade fallen, fischt und drapiert ihn ins sprudelnde Öl. Geschmack? Ein Polterabend der Extreme. Eine Übertreibung in alle Richtungen. Die Zunge weiß kaum, wohin mit sich. Leben – deep fried.
Oder »Iceland«. An den Schaufenstern kleben die Angebote, davor ein, zwei Einkaufswagenschlangen: Eine ganz normale Supermarktkette, könnte man meinen. Aber Iceland ist anders. Es ist der Gegenpol zu den Charity Shops. Hier gibt es kein gutes Gewissen, kein Energiesparen, kein Ist-das-wirklich-Nötig?
Bei Iceland gibt es alles – tiefgefroren. Truhen stehen dort Spalier, links und rechts und rechts und links. In langen Reihen brummen sie vor sich hin. Alles, wirklich alles ist hier auf minus 23 Grad gekühlt. Zuerst Obst und Gemüse, am Schluss die Getränke. Dazu Dudelmusik.
Gibt es Menschen, die in einer Tiefkühlwelt leben? Menschen, die nur hier einkaufen? Die einfach nichts anderes brauchen und allem misstrauen, was nicht mindestens minus 23 Grad aushält? Vielleicht noch mal zum Kiosk, Zeitung kaufen oder Klopapier.
»Okay, aber kann man das nicht auch einfrieren? Deep frozen Klopapier?« Sicherheitshalber.
Wir standen noch immer im Charity Shop, mittlere, normale Temperatur, vielleicht 20 Grad. Plus. Nichts frittiert, nichts eingefroren. Die Verkäuferin, ehrenamtlich. Viola, höchstschwanger. Und ich, so normal wie möglich. Vor uns das Bastding, etwa so groß wie ein Fernseher, das Neugeborenenkörbchen.
Eigentlich hatten wir es zu Hause ja schon feingemacht: Einen Bananenkarton aus dem Supermarkt geholt, die Schwestern durften Bilder auf die Pappe malen, unsere Familie. Wir hatten eine Decke hineingelegt. Das Ganze stand auf der Kommode, sah schön aus und roch von oben bis unten nach Banane, panamafein. Man bekommt immer mehr, als man gebastelt hat.
»Ihr wollt euer Neugeborenes in eine Pappkiste legen?«, empörte sich eine Freundin am Telefon. Eine einfache Behausung stärkt das Niveau, hätte ich antworten können. Man kann alles verargumentieren. Fieber kräftigt den Charakter, heißt es etwa bei den Anthroposophen. Jaja, interessant. Ist es dann erst mal so weit, dann geht der Gaul namens Gefühl mit einem durch: Wenn man dann an
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