Aus Liebe zum Wahnsinn
darin ist Linie-Aquavit, ein Kümmelschnaps. Ausgerechnet. Ich bin immer misstrauisch bei Getränken, auf denen steht »am besten eisgekühlt«. Denn
eisgekühlt
passiert vor allem eins: Die Welt wird unkomplizierter, einschichtiger. Man schmeckt vor allem eins: weniger. Ausgerechnet also bei diesem hartgesottenen Getränk bekommt der Käufer – mehr oder minder gratis – eine 1 a Geschichte mitgeliefert: 19 Wochen lang schaukelt der Branntwein in ehemaligen Sherryfässern auf Schiffen durch die Weltmeere, umrundet Australien, kreuzt zweimal den Äquator. Da steht dann zum Beispiel »Tamesis« und » 15 . 08 . 2009 - 17 . 12 . 2009 « auf der Innenseite des Etiketts, so dass es aquavitgetrübt durch die Flasche schimmert. Man trinkt und trinkt, und irgendwann sieht man die Seemänner, wie sie kurz vor Weihnachten von Bord der Tamesis wanken. Erst durch die Weltreise gewinne der Schnaps seine charakteristische Milde: die Seeluft, das Hin und Her von Kälte und Hitze, von Wellen und Wogen. Dieses Veredelungsverfahren soll per Zufall vor mehr als 200 Jahren entdeckt worden sein, nachdem die Schiffsleute je nach Legende ein paar Fässer in West India/Indonesien/Australien nicht losgeworden sind, weil sie keiner kaufen wollte/der Käufer zwischenzeitlich verstorben war/sie sie einfach vergessen hatten. Die Retour-Fässer jedenfalls, und da sind sich alle Legenden einig, sollen besonders köstlich gewesen sein. Seitdem wird das Zeug quer durch die Welt geschippert, bevor es dann im Einkaufswagen die letzten Meter zurücklegt. Steckt nicht in jedem Kümmelschnapstrinker ein kleiner Geschichtensammler, Weltmeersegler, Seeräuber, Eichenfassbohrer?
Natürlich sammeln Dinge auch die anderen Geschichten ein, die, die nicht schön sind. Zum Beispiel die der Schrankwand aus der Wohnungsauflösung. Ein Freund hatte mich gefragt, ob ich ihm beim Abbauen helfen könne. Die Mutter einer Freundin war Hausverwalterin gewesen, die Schrankwand noch übrig und seine eigenen Klamotten ständig in Stapeln auf dem Boden.
»Klaro, mache ich.«
Irgendwann standen wir nach dem ganzen Schrauben und Klopfen und Schleppen in einem sehr engen, mit Schrankteilen vollgestellten, spiegellosen Aufzug, ich drückte »E«.
»Du weißt schon, warum die Wohnung ausgeräumt wird?« Ich zuckte mit den Achseln. »Also …« Der Aufzug ruckte, war angekommen. Gleich würde sich die Tür öffnen. »Die hat sich aufgehängt.«
Ich weiß nicht, ob der Freund das je aus dem Kopf bekam. Wenn er eine Hose aus dem Schrank nahm, wenn er sich fragte, welches Shirt zu diesem Tag passen könnte, wenn er im Zimmer saß und auf die Schrankwand schaute. Wir haben nie erfahren, wo die Frau sich umgebracht hatte, wir wussten nur, dass es in der Wohnung geschehen war und dass es niemanden gegeben hatte, keine Familienangehörigen, keine Freunde, niemanden, der etwas mit ihren Sachen zu tun haben wollte. Ob der Freund es überhaupt seiner Freundin, mit der er damals zusammengelebt hatte, erzählt hatte? Jedenfalls hat er die Schrankwand gleich am Anfang umgestrichen, und als die Beziehung eineinhalb Jahre später auseinanderging, blieb sie bei der Ex-Freundin.
Damals, nachdem wir die Schrankwand ins Auto geräumt hatten, sind wir noch auf den Speicher gegangen.
»Steckt ein, was ihr gebrauchen könnt«, hatte die Hausverwalterin gesagt. Der Rest würde sowieso entsorgt werden. Ich habe eine Kiste mit Weihnachtsschmuck mitgenommen. Einen Nussknacker und einen Holzring mit vier Engeln, die je eine Kerze halten. Wir haben die Sachen immer noch. Und jedes Mal, wenn ich die Kiste Anfang Dezember aus unserem Keller hole, denke ich an die einsame, tote Frau.
Den Nussknacker und den Holzadventskranz bewahre ich auch noch immer in der Paketkiste auf, in der ich sie damals vom Speicher geholt habe. Vorne steht die Adresse drauf, wo die Frau gewohnt hat und gestorben ist, und quer über dem Paket »Alles Gute«, daneben ist ein Strichmännchen gemalt mit einem Luftballon in der Hand. Der Stempel auf der Briefmarke, 15 Jahre alt. Links in der Ecke: der Absender. Anfangs dachte ich daran, dem mal zu schreiben, zu erzählen, was nach »Alles Gute« noch alles passiert war mit der Frau und wo dieses Paket letztlich gelandet war.
Aber wer hat schon das Recht, sich da einzumischen?
Warum wir Tennent’s trinken, fragt Dave, zieht die Augen zu schmalen Schlitzen. Das könne man doch nicht ernsthaft tun. Er schüttelt sich. Dave ist unser Nachbar, wir sitzen bei
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