Aus Liebe zum Wahnsinn
oder runtergefallen war. Er war nun mal ein kleiner, agiler Junge. Und er hatte ein paar Geschwister. So genau wusste sie nun mal nicht, was da tagsüber alles passiert sein konnte. Das sei nicht gut, hatten die Ärzte geschimpft. Lorenzo wurde weiter beobachtet, sie musste die Nacht über dableiben.
Giannas erster Satz am Morgen galt ihrem Bruder: »Ist Lorenzo noch im Krankenhaus?«
»Ja«, antwortete ich, und umarmte sie. Ihre Sorge rührte mich, tröstete über eine rastlose Nacht hinweg. Aber es sei alles okay. Die Ärzte hätten grünes Licht gegeben. Wir könnten die beiden jetzt abholen.
Amiram hielt es zehn Tage mit uns aus. Zimmer an Zimmer lebten wir zusammen und doch in sehr verschiedenen Welten. Amiram, der morgens zur Arbeit ging, an irgendeinen Postschalter, der immer wieder mit der Mutter seines Kindes zu sprechen versuchte, die im Modegeschäft gegenüber arbeitete und die uns noch drei Monate lang nach Amirams Auszug jeden Tag an ihn erinnerte, bis der Laden Pleite machte. Amiram, der seinen Tag danach zu planen versuchte, dem wändeprügelnden Vermieter nicht zu begegnen.
Und wir, die wir uns peu à peu Alltag und Gegend eroberten. Den Café Hafuch mit Meeresrauschen. Den Shuk Ha’Carmel, das Kilo Erdbeeren für 50 Cent hier, Mozzarella vom Bulgaren dort. Es ist der größte Markt Israels, der einzige Markt der westlichen Welt, der noch ein saisonal gebundenes Angebot hat. Avocados und Mangos zum Beispiel teilen sich dort das Jahr. Ab September gibt es Granatäpfel, an jeder zweiten Ecke vor den Augen frisch gepresst. (Ja, Hoeneß-Bub, ich weiß, gibt es auch zu Hause. Und ja, die Presse funktioniert noch. War gemein, ich weiß. Aber egal, so ein blutiger, frischer, dichter Granatapfelsaft: zu gut.) Pomelos, Melonen. Wir parieren das Angebot mit einem wahnsinnigen Früchtedurchsatz. Kiwis, Erdbeeren, Mangos kommen erst in die Tiefkühltruhe, dann zusammen mit ein wenig Zucker, Joghurt oder Sahne in den Mixer. Früchte derart lecker aufzubereiten können wir uns in Deutschland gar nicht leisten.
Für ein Magazin recherchierte ich mal einen Stadtrundgang durch die Saftbars von Tel Aviv.
»Hi, I am a German journalist. I do a report about juice bars in Tel Aviv.« Und erst nach der achten Bar, nachdem ich mich durch Melone und Minze, durch Litchi und Drachenfrucht, durch Ingwer und Sellerie getrunken hatte, erst dort, als ich gerade den »Kurzen unter den Säften« probieren will, den gepressten Weizengrassaft: fingerhutgroßes Becherchen, gefüllt mit leuchtmarkergrünem Saft, der schmeckt, als ob man in eine Wiese beißen würde, gerade als ich sagte »Ja, also juice, freshly squeezed juice«, da verstand ich, warum die Leute in den sieben Bars zuvor und auch hier in der achten nach meinem Auftaktsprüchlein stets reserviert reagierten, so als ob mit mir was nicht ganz gestimmt hätte. Mit mir, dem German journalist, der einen Artikel über
Jews
bars in Tel Aviv machen will.
Am Ende stand dann tatsächlich Amirams Onkel vor der Tür. Nein, für den ganzen Kram hatte der keinen Platz, nein, auch nicht für die Fischerausrüstung. Amiram sollte zwei Taschen packen. Und ja, das Pessach-Geschirr ginge on top.
Und so ging ich ein paar Monate später mit den Kindern und Amirams Angeln nach Jaffa, an den Hafen. Es war früh am Morgen, die Kinder waren aufgeregt, und wir hatten wahnsinnig viel Glück: Keines der Kinder rutschte von der Hafenpromenade hinunter ins ölige Brackwasser und vor allem: Keiner der Fische von dort unten biss auf Amirams Angelhaken. Und so stand auch noch Jahre später, als wir längst ganz woanders lebten, Amirams grüne autoreifengroße Glasschale bei uns in der Küche. Und die Töchter gehen noch heute mit Amirams Militärtaschen zum Judo, mit hebräischem Aufdruck. Und drei von den ursprünglich mal acht Weingläsern, die zwar nicht wertvoll, aber irgendwie hübsch und voller Erinnerungen sind, stehen auch noch bei uns im Schrank.
»Wie wollen wir das dieses Jahr mit dem Baum machen?«, fragte Viola. Ja, der Baum. Natürlich gibt es auch im Heiligen Land pünktlich zum Fest raumhoch maßgeschneiderte Tannen. Dachte ich. Denn so hatte der Jüdische Nationalfond KKL das versprochen, und in Beth Schemesch, eine Autostunde von Tel Aviv entfernt, extra ein »Weihnachtsbaum Verteilungszentrum« hochgeforstet. Dort könnte man entspannt durch Tannenbaumplantagen streifen, an Stämmen rütteln, Wuchs und Nadelfarbe prüfen und schließlich sein ganz persönliches
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