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Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Cadeggianini
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über Bande geprügelt wird. Steht das missglückte Machwerk erst einmal auf dem Tisch, heißt es nur: »Irgendwas stimmt mit unserem Ofen nicht.« Oder: »Haben wir keine Alufolie mehr?« Oder gern auch nach dem ersten Bissen: »Der hätte noch gekonnt.« Und wer den Bäckerinnen und Bäckern während dieser Sätze in die Augen blickt, der weiß: Es geht ihnen nicht um Ofen, Alufolie oder Backzeit. Sie wollen nur eins: Den Rausholer vierteilen. Und zwar jetzt.
     
    Natürlich hatte Amiram, der glücksspielsüchtige Halbinder, versprochen, auszuziehen, am Sonntag. Ein Onkel von auswärts wollte ihn vorübergehend aufnehmen. Aber das war wie mit seinen Mietzahlungszusagen. Je öfter er sie wiederholte, je öfter er davon sprach, desto misstrauischer sollte man werden, desto unwahrscheinlicher war es, dass er sie wahr machte. Und am Shabat, da könnte er ohnehin unmöglich arbeiten.
    Wir befürchteten: Amiram würde noch monatelang den brüllenden Kobi aushalten. Nichts von seinen Sachen war gepackt, und dieser Onkel hatte sich noch nicht ein einziges Mal sehen lassen, sogar das Pessach-Geschirr stand noch sauber gestapelt im Verschlag. Es sah alles danach aus, als ob Amiram es sich trotz Kobi und Kündigung einfach weiterhin gemütlich machte. Andererseits: Wir hatten einen Mietvertrag für die Wohnung, vier kleine Kinder und die Laoten vor der Palasttür. Und früher oder später würde Amiram ohnehin raus müssen, in den Gegenwind des Lebens.
    Es war eine Zwickmühle: Ließen wir den gebeutelten Amiram dort leben, wo er wohnte, saßen wir schon morgen auf den Straßen Tel Avivs. Setzten wir aber unseren Mietvertrag durch und dafür Amiram an die Luft, machten mir Moral und Hoeneß-Bub die Hölle heiß. Sollten
wir
etwa zum Erfüllungsgehilfen des Zwangsversteigerers werden?
    Wir entschieden uns für den guten, alten Mittelweg: den Selbstbetrug. Denn wieder mal war es so, dass die Straße härter war als der Hoeneß-Bub.
    Wir standen zwischen Meer und Shalom-Tower, dem ersten Skyscraper Israels. In den Sechzigern gebaut und über Jahrzehnte das höchste Gebäude des Nahen Ostens. Wir standen vor Rehov Ya’avetz 12 , ein dreistöckiger Zweckbau, vor Amirams Wohnung. Vor unserer Wohnung. Und wir hatten unseren Fahrradanhänger dabei, bepackt mit den angemalten Stühlen, einer gelben Plastikwippe, vollgestopften Plastiktaschen, ja den bunt karierten mit Reißverschluss. Er könnte ja erst mal bleiben, sagten wir zu Amiram. Ob wir schon mal ein Zimmer beziehen dürften?
     
    Es ist ein schreckliches Geheimnis. Es ist etwas, was einem niemand sagt, wenn man mit dem Gedanken spielt, Kinder zu bekommen, was aber jede Mutter und jeder Vater wie eine stille Wunde mit sich rumträgt: Mit den Kindern kommt der Tod ins Leben. Ist es vor der Elternschaft einfach nur das eigene Leben, auf das man halbwegs verantwortungsvoll achtet – nie betrunken Auto fahren, nie das Bügeleisen anlassen oder mit spitzen Dingen in der Teflonpfanne kratzen, immer mal wieder was für die eigene Seele tun, nur im äußersten Notfall handgreiflich werden, und wenn, dann nur mit den Fäusten – , zieht mit dem Mutter- und Vatersein eine ganz neue Dimension des Sterbens ein. Was, wenn sich die eigene kleine Familie nicht an die Reihenfolge hält? Was, wenn dem Kind was passiert?
    Es reicht, dass jemand den Gedanken antippt, ganz leise, ganz unrealistisch – und schon steht der Tod in der Tür. Ohne zu klopfen. Abends im Bett, wenn einem der nächste Tag im Kopf herumspukt. Kann die Oma eigentlich noch richtig aufpassen? Oder nachmittags: Warum ruft die Tochter nicht an, auch wenn wir es doch ausgemacht hatten? Oder morgens: War da nicht gerade dieser Rums auf der Straße zu hören, ganz eindeutig: Mensch gegen Beton? Und warum schreit niemand? Sind alle Kinder da?
    Der Tod in Gedanken lässt sich nur mit einer Mischung aus vorgenommener Sorglosigkeit und Schicksalsergebenheit in die Flucht schlagen: Klar hatten wir ausgemacht, dass sie anruft, aber sie wird eben so viel Spaß haben, dass sie nicht mehr dran denkt. Und außerdem: Ich kann jetzt eh nichts machen.
    Anders ist es, wenn einen der Tod persönlich besucht und seine kalte, raue Hand ums Herz schließt. Wie zum Beispiel an dem Tag, als wir umzogen, zu Amiram in die Bude, in das eine Zimmer, das er freigeräumt hatte.
    Ein Umzug ist natürlich immer die Steilvorlage für mangelnde Eltern-Aufmerksamkeit. Und natürlich ist das bei uns nicht anders, obwohl es eigentlich auch vorher oder

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