Aus Liebe zum Wahnsinn
nachher hätte passieren können.
Wir haben freilaufende Kinder. Dagegen können wir nichts tun. Und vor allem: Wir wollen gar nicht. Sie dürfen allein einkaufen gehen, auch wenn sie noch nicht in der Schule sind und auch mal vom Klettergerüst runterfallen. Vergleicht man das Familienleben mit einem militärischen Konflikt, dann sind Viola und ich weder Abfangjäger noch Ahmedinedschads, die laut tönend an Massenvernichtungswaffen herumbasteln. Wir sind keine Fußsoldaten, die dem Feind Aug in Aug gegenüberstehen, und auch keine Aufklärer hinter den Fronten. Wir sind eher die NGO , die immer zu spät kommt, erst mal machen lässt und dann immer mal wieder aus der zweiten Reihe – jenseits der Steinwurf- entfernung – etwas ruft: »Vertragt euch doch!« oder »Es gibt Gummibärchen für alle – Hände und Gesicht mit kühlem Wasser waschen, in zwei Minuten im Wohnzimmer.«
Man könnte sagen, es war Pragmatismus, weil wir als absolut durchschnittlich begabte, also vierhändige Eltern gegen Übermacht spielten. Also gegen 40 Kinderfinger, die von vier Kinderquerköpfen dirigiert wurden. Kann sein. Es ist eine Art hoffnungsvolle Resignation, Defätismus mit einem positiven Spin, mit dem leichtfertigen Vertrauen, dass das schon irgendwie funktioniert. NGO halt.
Vielleicht hätten wir es schon früher bemerkt, wenn nicht so viel Trubel gewesen wäre. Zumal wir unsere mehr als sieben Sachen mit dem Fahrrad transportieren mussten. Das Bett zum Beispiel balancierte auf Sattel und Anhänger, drunter und drauf Taschen und Tüten, daneben die Kinder. So karawanierten wir die Strandpromenade hinauf. Wir schleppten, zerrten, fluchten. Fremde Menschen machten Fotos von uns.
Am Abend, es gab Falafel von der Ecke, saßen wir zusammen auf dem Balkon, tunkten Bällchen in Hummus und Thina. Schade, das mit dem Palast. Aber jetzt die eigene Wohnung.
Lorenzo, knapp 1 , kam auf den Knien angerutscht. Er war gerade in der Altötting-Phase.
Altötting ist der größte Marien-Wallfahrtsort Deutschlands. Dort steht die Gnadenkapelle, wo 1489 eine Altöttingerin ihr dreijähriges ertrunkenes Kind auf dem Altar aufgebahrt und durch Beten und Flehen, wiederbelebt haben soll. Seitdem rutschen Kranke, Siechende und deren Angehörige auf den Knien um die Kapelle herum, in der die Schwarze Madonna steht. Tausende Votivbilder erzählen im Rundgang von Rettungen und Wundern, danken der heiligen Maria für Heilung.
Auch Lorenzo rutschte, wann immer es der Untergrund erlaubte, auf den Knien herum. Ich glaube nicht, dass er das wegen Maria tat oder er mal Bürgermeister von Altötting werden wollte. Er konnte damals einfach noch nicht richtig laufen, fand krabbeln aber doof, zu wenig Überblick, wahrscheinlich nervte ihn auch dieses ständige Halsüberstrecken. Würde mich, glaube ich, auch wahnsinnig machen.
Ich strich Lorenzo über die Haare. Vorne über die Stirn, hin zum Fontanellenloch, das schon fast zugewachsen war. Er sah müde aus, unser strohblonder, kleiner Altötter. Dann fuhr ich an den Hinterkopf – und mit einem Mal fror meine Bewegung ein.
Dort, an Lorenzos Hinterkopf, war eine spiegeleigroße Fläche, die sich eben nicht nach Kinderkopf, nicht nach Haar und Haut auf Schädelknochen anfühlte, sondern genau so wie eines dieser Kühl-Gelkissen, das man auf Bänderriss oder Wespenstich presst – mit nur zwei Unterschieden: Erstens war dieses Gelkissen nicht kalt, sondern wie eines, das man nach der Wespenattacke vergessen, nicht mehr zurück in die Kühltruhe gelegt hatte und dann Wochen später aus der Sofaritze zieht. Und zweitens war es eben kein Gelkissen, sondern Lorenzos Hinterkopf, körperwarme Kopfmasse. Ohne Knochen, ohne nichts.
In so einer Situation versuchen Eltern gern eine Schadensabschätzung vorzunehmen. Ich auch.
Ich alarmierte stammelnd meine Frau. Zusammen starrten wir unserem Kind in die Augen, drückten seine Hand, fühlten den Puls, flüsterten in die Ohren. Aber natürlich war es vollkommen zwecklos. Ein Kind kann sich so normal benehmen, wie es will: Die Gelassenheit ist nach dem ersten Kühlkissen-Gefühl dahin.
Irgendwann spät nachts – Gianna, Elena und Camilla schliefen bereits, das erste Mal in der neuen Wohnung – läutete mein Handy. Viola rief aus dem Krankenhaus an. Es war tatsächlich ein Haarriss in der Schädeldecke, wie die Computertomographie anzeigte, aber soweit alles in Ordnung. Es könne schon sein, hatte Viola den Ärzten gesagt, dass er irgendwie und irgendwann um-
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