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Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Cadeggianini
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    »Tu’s bloß nicht!«, sagte mein russischer Freund Fima. Windschiefe, dürre Fichten stünden dort, die noch auf der Rückfahrt reflexartig alle Nadeln von sich würfen. Er zeigte mir seinen Baum, den er auf den Aircondition-Kasten an der Außenmauer seiner Wohnung im 3 . Stock gepackt hatte. Ein armseliges Pärchen, die beiden: Die Klimaanlage und der Weihnachtsbaum, zusammen vereint im Heiligen Land. Er plante, so verriet Fima mir, ihn einfach dort zu vergessen. Spätestens zu Neujahr könnte er ihn dann in den Hof stoßen.
    Ich beneidete Fima. Nicht um den Baum, der tatsächlich aussah wie die vegetarische Version eines gerupften Huhns. Ich beneidete ihn um die Fähigkeit, nach Plan zu vergessen. Das will ich auch können. Ich hätte eine Menge, was ich vergessen will. Ich würde To-do-Listen schreiben mit den ganzen Dingen, die ich vergessen will. Drohende Aufgaben, Peinliches, Fehler. Etwa das Familienfest, an dem ich meine Cousine zur Begrüßung umarmte, ganz zaghaft: »Bei dir muss man ja noch aufpassen« sagte und sie antwortete: »Nein, das Kind ist schon längst da.« Schon vergessen. Oder der Geburtstag meines Vaters, entfernte Bekannte dort, die einen Sohn in meinem Alter hatten (gerade seine Ausbildung abgebrochen, dafür die Tür in einem Club übernommen). Und dann sagte ich – zwei Kinder und nicht mehr als eine Zwischenprüfung in Philosophie – mit vorauseilender Altklugheit: »Ja, es ist schon schwierig mit den Kindern. Da macht ihr euch sicher Sorgen?« Vergessen, samt der völlig berechtigten Retourkutsche: »Deine Eltern werden sich auch Sorgen machen.« Aber auch Handfesteres. Die täglichen Erziehungsfehler etwa, die mich abends im Bett quälen. Das Anschreien, die verpassten Chancen für Nähe, das Ins-Zimmer-Bugsieren, wenn ich mir nicht mehr anders zu helfen weiß. Selten sind wir als Menschen schutzloser, als in dem Moment, in dem wir als Eltern den Halt verlieren. Schwupp, alles vergessen mit dem Vergiss-mich-jetzt-Plan à la Fima.
     
    Ich beschloss, dass das »Weihnachtsbaum Verteilungszentrum« dieses Jahr nicht unser Baumlieferant würde. Schließlich lag das beste Stück aus dem Wäldchen ja bereits auf Fimas Aircondition-Kasten, und in der Zwischenzeit waren sicher das zweit- und drittbeste Bäumchen auch schon abgeholzt worden. Also neu.
    In kurzen Hosen und Flip-Flops, zusammen mit Gianna und Elena, zog ich los, den Weihnachtseinkauf besorgen. In Bethlehem gebe es Plastikbäume, sagte mir ein Mann auf dem Markt. Ja toll, und? Ein anderer wollte mir eine Menora verkaufen, einen riesigen, siebenarmigen Leuchter. Elena sagte, der wäre tot und außerdem könnte man da nicht genug dranhängen. Nach zwei Stunden kamen wir mit einem Jasminbäumchen zurück. Ich dachte mir: Jasmin, das war doch irgendwas, was ganz abenteuerlich gut riecht. Das Bäumchen steckte im Topf, konnte also nicht gleich welk werden, war spärlich genug bewachsen, dass der wenige Weihnachtsschmuck, den wir hatten, auffallen würde. Und außerdem: Einen Jasminweihnachtsbaum! Wer hat schon so was? Die Kinder waren erschöpft, froh, dass wir endlich was gefunden hatten – und außerdem war da auch genug Platz für Geschenke unten drunter – und Patachon war wieder mal zufrieden mit mir.
    Um es kurz zu machen: Noch am selben Tag wurde unser Weihnachtsbaum auf den Balkon verbannt, die Tür verrammelt. Ich war kurz davor, die Lüftungsschlitze zu versiegeln. Jasmin in Massen verströmt einen unglaublichen Gestank. Und zum ersten Mal willigte ich ein, an Heiligabend auch ein wenig Weihrauch zu verbrennen.
     
    »Nie darf ich mit nach Gaza«, motzte Elena, 4 , und stellte sich mir stampfend in den Weg. Ich war spät dran. Gestern war eine israelische Granate ins Fußballstadion der Frauennationalmannschaft von Palästina, Sektion Gaza, gefallen. Da brauchte ich Bilder. Also noch mal umarmen und »ja, vielleicht bringe ich auch was mit«. Mal sehen.
    Nach dem Abzug der israelischen Siedler im August 2005 aus dem Gazastreifen waren die Menschen dort voll neuer Hoffnung. Eine davon sollte Tourismus heißen. Warum nicht Araber aus der ganzen Welt nach Gaza holen, zu den Underdogs Israels, in die Wiege der Geschichte, ans Mittelmeer? Ein extra eingerichtetes Tourismusministerium fand archäologische Stätten, jahrhundertealte Mosaiken, einen Sandstrand, einen Zoo. Teure Hotels wurden gebaut, sogar Mövenpick hat 250 Zimmer und fünf Sterne dort am Strand von

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