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Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Cadeggianini
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verletzte oder panische Menschen kümmern zu müssen. Beine zu Beinen. Köpfe zu Köpfen. Ein Mann hatte zufälligerweise gerade im Moment der Explosion mit seinem Handy ein Telefongespräch aufgezeichnet. Jetzt stand der Mann vor der Absperrung, stützte seine Arme auf die Barriere, starrte auf das Loch im Asphalt, wo der Attentäter gestanden haben musste. Immer wieder spielte er seine Aufnahme ab, bis zum lauten Knall, bei dem der kleine Handylautsprecher bis zum Platzen übersteuerte.
    Drei Monate später wurde in demselben Restaurant ein sechszehnjähriger Junge aus Jenin von einem Sicherheitsbeamten aufgefordert, seine Tasche zu öffnen. Er brachte fünf Kilogramm Sprengstoff zur Explosion. Elf Menschen starben, rund 60 wurden verletzt. Der Sechszehnjährige wurde in die Statistik nicht eingerechnet, Selbstmordattentäter werden in Israel nie mitgezählt.
    Es ist ein Luxus, den Kindern von all dem nichts erzählen zu müssen. Nicht an dem Versuch zu scheitern, es erklären zu sollen, zu müssen. Als ob es erklärt irgendwie weniger grauenvoll wäre. Es ist der Luxus, die Kinder in einer anderen Welt belassen zu können. Diese Parallelwelt, die wir aus Deutschland kannten und in die wir auch wieder zurückkehren würden, die es aber genauso hier in Israel gab.
    Während des Gazakriegs etwa lagen wir am Tel Aviver Stadtstrand. Es war Shabat, es war voll, es war eigentlich alles wie immer. Nur, dass ab und zu ein Helikopter durchs Bild rauschte, die Küste entlang.
    Die aus dem Norden, die von rechts nach links über meinen Café Hafuch flogen, brachten neue Soldaten. Und die aus dem Süden, von links nach rechts, flogen Verwundete in den Norden. Das kurze Stück, die paar Sekunden, die der Helikopter direkt über den Badegästen flog, unterbrachen alle ihre Unterhaltung. Manche schauten den Hubschraubern nach, andere winkten der Bedienung: bestellten neue Getränke.
    Einerseits: schlimm, ignorant, gefühllos, abgebrüht. Ich weiß. Andererseits: Ist es wirklich so viel besser, ein betroffenes Gesicht aufzusetzen? Zu Hause zu bleiben. Entsetzt zu sein. Und wann sollte dieses Leben mit schlechtem Gewissen sich dann wieder einrenken? Wenn die Bodentruppen aus Gaza raus sind? Wenn die Besatzung vorbei ist? Wenn Frieden mit den Palästinensern geschlossen ist? Wie weit muss Krieg und Elend weg sein, dass man geflissentlich zum Alltag übergehen darf? Dass man Kaffee, wo auch immer, einfach so trinken darf?
     
    Ich war auf dem Rückweg aus dem Norden. Der Libanonkrieg wütete, ich kam aus den raketenbeschossenen Städten im Norden, Nahariya, einem Kibbutz ganz im Norden, Rosh HaNikra, das verwaist im Windschatten des Raketenhagels liegt, verbrachte einen Tag lang in Kfar Giladi, einem Kibbuz an der Grenze, dessen Bewohner unter Tage wohnten, im Bunker. Gerade hatten drei Grad-Raketen ein Eisenbahndepot in Haifa getroffen, acht Menschen waren gestorben. Niemand hatte erwartet, dass die Hisbollah so weit reichende Waffen besaß. Und keiner wusste, was noch kommen würde.
    Die Verkehrsampeln waren ausgeschaltet, damit niemand an roten Ampeln auf leeren Straßen wartete und sich so länger als nötig an einem nicht raketensicheren Ort aufhielt. Dörfer verwaisten, Menschen flohen panisch Richtung Süden.
    Aus dem Stau auf der 2 er Autobahn wählte ich Violas Nummer. Das Mobilfunknetz war überlastet, brach immer wieder zusammen. Als ich endlich durchkam, gab ich im Staccato-Ton Tipps für den Notfall durch, für den Fall, dass die Hisbollah tatsächlich auch das weitgehend bunkerfreie Tel Aviv mit ihren Raketen erreichen sollte: Weg von Fenstern und Türen, Mauern suchen, die, die in Richtung Süden gehen.
    Es war dieses Telefonat, das Viola später immer wieder als Wendepunkt anführte. Sie hatte nichts so recht schrecken können, nicht meine Erzählungen aus Gaza mit noch warmen Leichen in Kühlhäusern, nicht die Katjuscharakete ganz im Norden, deren Druckwelle ich in der Magengegend gespürt hatte und nach der ich über die Straße balanciert war wie auf Eiern. Nicht der Familienausflug durch Hebron, auf dem wir mit den Kindern von maskierten Hamasniks erschreckt worden waren. Wir schlenderten durch die Einkaufsstraße, die Kämpfer rannten von Geschäft zu Geschäft und warfen die schweren Eisentüren zu. »Heute kein Kommerz.« Trauer war angesagt, wegen der Toten am Strand von Gaza. Dazu plärrten Sirenen aus ihren Megaphonen. Wir wichen Richtung Straßenmitte zurück. Die Kinder fanden die Männer lustig, wollten

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