Aus reiner Notwehr
Elite-Quacksalbern in Boston fachsimpeln! Bist du endlich schlau geworden?”
“Ich dachte, ich nehme mir mal ein paar Tage frei, Leo.”
“Ja, das Gefühl kenne ich.”
“Eigentlich habe ich mich sehr plötzlich entschlossen.” Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und lächelte ihn an. “Bin gestern Abend angekommen.”
“Da war deine Mutter aber froh, was?”
Kate nickte, und ihr Lächeln verschwand. “Deshalb bin ich heute hier, Leo. Ich möchte alles genau wissen. Ich …”
“Gehen wir hier hinein.” Er nahm sie beim Arm und geleitete sie zu dem vertrauten blauen Ledersessel vor seinem riesigen Schreibtisch. Während er sich setzte, betrachtete Kate die Kopie einer Pelikanzeichnung von John Audubon an der Wand hinter ihm sowie die Sammlung holzgeschnitzter Vögel auf einem antiken Büchergestell. Und die Bücher: medizinische Aufsätze, Fachblätter, Nachschlagewerke – Dutzende von Bänden, über denen sie früher stundenlang gebrütet hatte. Seit ihrem zehnten Lebensjahr hatte sie Medizin studieren wollen. Dr. Leo Castille war ihr Mentor und Vaterersatz geworden.
“Was genau ist mit Mutter los, Leo?”
“Was hat sie dir denn gesagt?”
“Dass sie ein Ovarialkarzinom hat, dass sie operiert worden ist und dass sie sich einer Chemotherapie unterzieht. Aber weitere Einzelheiten nicht! Und sie raucht! Es ist furchtbar! Jahrelang habe ich sie bekniet, das Rauchen zu lassen, doch sie hat nie auf mich gehört. Und jetzt braucht sie’s nicht mehr, meint sie.”
“Sie kann tatsächlich verdammt stur sein.”
Sie schaute ihn an. “Das ist ja wohl eine maßlose Untertreibung!”
“Deine Mutter hat ein Recht auf eigene Entscheidungen, Katy-did.”
“Aber rauchen bei Krebs?”
“Ist es das Rauchen, oder hat es dich nur geschockt, dass sie so krank ist, mein Schatz?”
Kate traten sofort die Tränen in die Augen. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht loszuheulen, und fand dann ihre Stimme wieder. “Warum hat sie mir nichts gesagt? Wäre sie etwa … ge… gestorben, ohne mir je etwas zu sagen?”
“So schlimm ist es denn doch nicht,
chère.
Sie hat dich einfach nie damit behelligen wollen.”
“Warum hast
du
es mir dann nicht mitgeteilt, Leo? Du hättest nur zum Telefon greifen müssen! Wenn Amber nicht gewesen wäre …”
“Bist du deshalb nach Hause gekommen? Weil Amber dich angerufen hat?”
“Ich hatte ohnehin vor zu kommen.” Sie blickte auf ihre Hände. “Ich war schon so lange nicht hier, und ich … ich brauchte eine Pause.”
Leo nahm eine Zigarre aus einer Schachtel. “Also, ich jedenfalls freue mich über dein Kommen. Auch wenn Vicky dich nicht gerufen hat: Gut, dass du da bist.” Er zündete die Zigarre nicht an, sondern rollte sie wegen des angenehmen Gefühls zwischen den Fingern. “Allzu lange wirst du nicht bleiben können, oder? Ich weiß, was in diesen Großstadt-Unfallkliniken los ist. Immer zu wenig Personal – besonders, was erfahrene Leute wie dich angeht. Wann musst du denn zurück?”
Kate erhob sich, ging zu dem Büchergestell und ließ einen Finger über den sanft geschwungenen Hals eines weißen Reihers gleiten. “Dies ist kein richtiger Urlaub. Eher Sonderurlaub.” Nach einiger Zeit drehte sie sich zu ihm um. “Du weißt, was man uns Unfallchirurgen nachsagt: dass wir alle nach ein paar Jahren ausgebrannt sind. Sieht so aus, als sei das bei mir der Fall.” Sie lächelte unsicher und schlang die Arme um den Oberkörper. “Ich schätze, ich musste einfach neu nachdenken.”
Leo hatte die kalte Zigarre mittlerweile zwischen den Lippen, nahm sie aber wieder aus dem Mund und sah sie prüfend an. “Heißt das, du brauchst eine Auszeit wegen des Jobs in St. Luke, oder Bedenkzeit wegen der Medizinerei generell? Klär mich auf!”
Kate studierte den Pelikan hinter ihm. “Wegen St. Luke.”
Er nickte. “Nun, was für St. Luke die Eule ist, könnte ja für Bayou Blanc zur Nachtigall werden, wie man so sagt.”
“Ich verstehe nicht ganz.”
Er klemmte sich die Zigarre zwischen die Zähne. “Was würdest du davon halten, der medizinischen Profession in einer Kleinstadt nachzugehen, Kate?”
“Wie? In eurer Klinik?” Kate bezweifelte, dass das Krankenhaus von Bayou Blanc überhaupt über eine Unfallabteilung verfügte. Und selbst wenn eine existierte, wäre ein Vollzeitchirurg zu teuer. Doch ihr Puls ging etwas schneller bei dem Gedanken. Sie wäre dort die einzige Traumaspezialistin, und kein Jake Grissom würde ihr vor die Nase
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