Aus reiner Notwehr
sturmgepeitschter Wellen im Golf von Mexiko gehört hatte, sondern dass der Fernseher noch mit flimmerndem Bildschirm vor sich hin rauschte. Sie lag nicht in einer Koje im Kabinenkreuzer ihrer Eltern, sondern in ihrem alten Zimmer. Sie war auch nicht mehr sechs Jahre alt. Sie war erwachsen, lange über das Alter von Spuk und Albträumen hinaus. Sie hatte wohl nach dem Abendessen zu viel von diesem “chickory coffee” getrunken, Kaffee, der mit einem Zusatz aus gemahlenen und gerösteten Zichorienwurzeln einen besonderen Geschmack erhielt und für diese Gegend berühmt war.
Sie schaltete das Fernsehgerät per Fernbedienung ab und stand auf. Die goldverzierte Pendüle auf dem runden Piecrust-Tischchen ließ drei zarte Glockentöne erklingen: drei Uhr morgens. Von dem furchtbaren Traum hämmerte ihr immer noch der Puls. Dieser Kaffee bekam ihr nicht.
Im Bad füllte sie das Glas wieder mit Wasser. Vielleicht war es doch nicht der Kaffee; vielleicht waren es eher Fragmente eines Ereignisses von vor über dreißig Jahren, die ihr in der ersten Nacht daheim den Schlaf raubten.
“Gott, ich drehe noch durch”, flüsterte sie und massierte sich die Schläfen. Sie schaute in den Spiegel und fand, dass sie aussah wie jemand, der mit knapper Not einer Katastrophe entronnen war. Ihr dunkles Haar klebte ihr schweißnass an Wangen und Stirn. In ihren grauen Augen lagen noch Angst und Entsetzen, ihr Mund – ohnehin etwas zu voll und verletzlich – bebte noch immer.
Stets handelte es sich um den gleichen Traum: um den Tag, an dem die elegante Dreizehn-Meter-Yacht ihrer Eltern im Golf gesunken war, und die Bilder waren völlig konfus. So sehr sie sich bemühte, die Stücke zusammenzufügen: Alles mündete in ein Wirrwarr von Eindrücken – laute Stimmen, stürzende Gegenstände, Chaos, brüllende Männer und die Schreie ihrer Mutter. Und auch das Ende war immer gleich: der Sturz in das kalte Wasser des Golfs, der entsetzliche Schock, die Gewissheit: Sie ertrank.
In ihrer Kindheit hatte sie dieser Albtraum häufig heimgesucht, und mit ihrer Scheidung war er erneut aufgetaucht. Nun also verfolgte er sie bis nach Hause, bis nach Bayou Blanc. Sie drehte den Wasserhahn auf, ließ kaltes Wasser über ihr Gesicht laufen, trocknete es mit einem nach Lavendel duftenden Handtuch und nahm sich vor, nicht die Nerven zu verlieren. Ihre Mutter hatte Priorität. Erst dann konnte sie überlegen, wie ihre Karriere noch zu retten war. Früher oder später jedoch, ehe sie Bayou Blanc wieder verließ, musste sie endgültig herausfinden, was in jener Nacht vor dreiunddreißig Jahren an Bord der Yacht geschehen war.
5. KAPITEL
F rüh am nächsten Morgen erschien Kate in Leo Castilles Praxis. Ruby Zeringue, an die zwanzig Jahre schon seine Sprechstundenhilfe, schaute sie durch die Glasscheibe, die das Wartezimmer vom Behandlungsbereich abtrennte, mit einem breiten Lächeln an. “Ja, sieh mal, wer da ist!” Sie machte die Tür auf, nahm Kate ungestüm in die Arme und drückte sie kräftig. “Das ist ja ‘ne Überraschung! Wir dachten schon, dir gefällt das Yankee-Wetter dort oben zu gut und du kommst überhaupt nicht mehr nach Bayou Blanc.” Sie machte einen Schritt zurück, um Kate genauer anzusehen, und schüttelte ihren schwarzen Lockenkopf. “Junge, Junge, und du bist so schön wie eh und je,
chère
!”
Kate musste lächeln. “Hi, Ruby. Du siehst auch klasse aus.”
“Na, na!” Sie hielt den Kopf schief. “Willst wohl jetzt bei uns arbeiten, wie?”
Kate lachte. “Das leider nicht, Ruby! Nur zu Besuch!”
Ruby nickte. Sie hörte gar nicht auf zu nicken.
“Was soll dieser Blick, Ruby Zeringue?” Kate musste unwillkürlich wieder lächeln.
“Pass bloß auf, wenn du zur Fais-Do-Do-Zeit nach Bayou Blanc kommst. Man könnte dich verhexen, und plötzlich bist du doch hier, wo du eigentlich auch hingehörst, jawohl!”
“Das glaube ich kaum”, sagte Kate trocken.
“Denk an meine Worte!”
“Kate! Du bist es, Katie!” Leo Castille hatte sie beim Verlassen eines der Sprechzimmer entdeckt. “Ich habe doch deine Stimme gehört! Vicky hat dich angekündigt, aber ich habe nicht so schnell mit dir gerechnet! Komm erst mal rein und lass dich drücken, mein Mädchen!” Er nahm sie fest in die Arme, und Kate fühlte einen Kloß im Hals. Er roch nach gestärktem Ärztekittel, nach Desinfektionsmittel und Zigarren.
Er hielt sie bei den Schultern und sah sie ähnlich wie Ruby an. “Eigentlich müsstest du doch jetzt mit diesen
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