Aus reiner Notwehr
schob sich um ihre Schultern.
Kate wusste nicht so recht. “Hast du denn Platz für zwei von unserem Kaliber?”
“Wir machen Platz, Schätzchen!”
“Ich würde ja gern, Leo, aber …”
“Überleg’s dir! Muss ja nicht sofort sein.”
Oh, es klang so verlockend! Jetzt, da ihre Karriere im St. Luke einen solchen Knick erlitten hatte, war der Eintritt in Leos Praxis wahrscheinlich die beste Alternative, wenn sie mit der Medizin fortfahren wollte. Sie würde Zeit gewinnen, um diese schwierige Phase zu verarbeiten. Denn mehr war es nicht, das sagte sie sich immer wieder – eine vorübergehende Reaktion auf einen Erschöpfungszustand und auf ihre Scheidung, und dazu noch der Stress, der sich über Jahre in der Unfallchirurgie aufgestaut hatte. Das alles war einfach zu viel gewesen. Es musste eine zeitlich begrenzte Geschichte sein, denn mit Sam Delacourt konnte sie unmöglich zusammenarbeiten, nicht einmal um ihrer Karriere willen. Da mochte Leo seine Loblieder auf ihn bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag singen; ihre Einstellung zu Sam würde das nicht ändern: Er war kaltherzig, er war jemand, der schamlos lügen und betrügen konnte.
“Ich möchte aber lieber keinen formellen Arbeitsvertrag, Leo.”
“Kein Problem. Wie wär’s mit einer Art Testphase, sagen wir, bis zum Sommer? Danach …”
Plötzlich ging die Tür zum Sprechzimmer auf und ein hochgewachsener Mann kam herein, schlank, dunkelhaarig, mit angegrauten Schläfen und fast schwarzen Augen. Sein Kittel stand offen, und darunter trug er einen marineblauen Pullover, khakifarbene Dockers-Jeans und Joggingschuhe. Sein Blick war auf ein Krankenblatt gerichtet, das er in der Hand hielt. “Leo, ich hab da eine von deinen Patientinnen in …” Er schaute auf und verstummte.
Zum ersten Mal nach fünf Jahren stand Kate wieder Sam Delacourt gegenüber.
6. KAPITEL
E inen Augenblick lang hatte Kate ein Gefühl im Magen, als wäre sie von einer Klippe gesprungen, und ihr wurde heiß, als sie sich zwang, dem Mann ins Gesicht zu sehen, den sie einst mit jeder Faser ihres Körpers geliebt hatte. In seinen Augen loderten Zorn und Feindseligkeit auf, und sie wurde sich der unangenehmen Tatsache bewusst, dass ihre eigene Abneigung von ihm doppelt und dreifach erwidert wurde. Was sie für den Fall eines Wiedersehens mit ihm erwartet hatte, war ihr nicht recht klar; dass allerdings ausgerechnet er mit solcher Animosität auf sie reagierte, ging ihr nicht in den Kopf. Sie war schließlich die Leidtragende gewesen. Als sie ihn ansah, raffte er sich zu einer Art erzwungener Höflichkeit auf und nickte ihr steif und knapp zu. “Tag, Kate.”
“Tag, Sam”, gab sie leise zurück.
Leo bekam den Ernst der Lage offenbar nicht mit und strahlte. “Sam, ich sehe, du kennst Kate Madison noch. Habt ihr euch nicht damals in Tulane kennengelernt, als Kate ihre Assistenzzeit dort absolvierte? Nun, sie ist gerade aus Boston gekommen und macht ein bisschen Urlaub.”
Kate hatte das Gefühl, dass ihr unerwartetes Zusammentreffen Sam ebenso unangenehm war wie ihr. Seine Stimme klang distanziert höflich, als er fragte: “St. Luke, nicht wahr?”
“Ja.”
Sie schaute Leo an, der immer noch breit grinste. Sam hatte die Information wohl von ihm.
“Sie sollen dort eine erstklassige Unfallchirurgie haben.”
“Das hat sicher viel mit dem Standort zu tun”, bemerkte sie. “Man kann St. Luke mit dem Charity in New Orleans vergleichen. Beide liegen mitten in der Stadt, und in den Inner-City-Bereichen gibt es so viel Gewalt. Da liegt St. Luke günstig.”
Leos Blick ruhte wohlgefällig auf ihr. “Sam, sie will sich möglicherweise verändern.” Er nahm eine neue Zigarre aus der Schachtel, fischte einen Zigarrenschneider aus der Hosentasche und schnipselte die Spitze ab. “Heute ist unser Glückstag. Kate übernimmt vielleicht für mich, wenn ich in Rente gehe. Zumindest denkt sie drüber nach.”
“Übernimmt?” Sam warf ihm einen raschen Blick zu. “Wo, hier?”
“Na klar! Als sie mir sagte, dass sie genug hat von diesem Stressjob im St. Luke, habe ich gleich die Gelegenheit ergriffen und sie kurzerhand gebeten, hier doch für einige Zeit zu praktizieren.”
Sam verschränkte die Arme vor der Brust und klemmte das Krankenblatt unter die Achsel. “Unser Laden hier ist ziemlich klein”, sagte er, an Kate gewandt. “Und im Grunde sind wir eine Familienpraxis. Im Gegensatz zum Dienst in einem großen Innenstadt-Krankenhaus voller anonymer Patienten haben wir hier
Weitere Kostenlose Bücher