Aus reiner Notwehr
Kopfstütze lehnte.
Ein einziger Blick genügte, und ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich. Das Gesicht ihrer Mutter war von langer, schwerer Krankheit gezeichnet, fahl, hohlwangig, mit dunkel geränderten Augen und tiefen Furchen um die Lippen. Der sorgfältig um den Kopf gewundene Schal brach Kate fast das Herz.
“Mutter …”
“Kate!” Sie schlug jäh die Augen auf. Kate ging wie benommen zu ihr hin, beugte sich über sie, küsste sie auf die Wange und ergriff ihre Hände. “Mutter, was ist? Was ist denn passiert?”
Victoria schüttelte den Kopf und seufzte. “Müssen wir schon darüber reden? Du sitzt ja nicht mal!”
Kate zog einen Sessel heran und ließ sich darauf nieder. “Jetzt sitze ich.”
Mit geschlossenen Augen flüsterte ihre Mutter: “Ungeduldig warst du immer schon.”
“Mutter, ich bin Ärztin! Ich weiß, was Chemotherapie bedeutet. Und natürlich müssen wir darüber sprechen! Ich kann doch nicht einfach darüber hinwegsehen!”
“Ich bin mit der Chemotherapie fast durch.” Victoria drehte kurz den Kopf und streifte den Schal abfällig mit dem Mund. “Noch ein paar Monate, dann hätte ich vielleicht sogar wieder Haare gehabt. Aber du wolltest ja unbedingt jetzt kommen.”
Kate hätte nicht geglaubt, dass Worte so wehtun konnten. Sie war Ärztin und durfte erwarten, dass ihre Mutter sich ihr anvertraut, sie möglicherweise gar gebraucht hätte.
“Was ist es, Mutter?”
“Was für ein Krebs?” Victoria ignorierte Kates entsetzten Protest, zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. “Ovarialkarzinom. Man sollte es nicht glauben. Ich hätte auf meine Freundinnen hören und sie mir vor Jahren schon entfernen lassen sollen, als es alle machten.”
“Und ich kann kaum glauben, dass du trotzdem rauchst.”
“Fang nicht wieder an, Kate.” Victoria stieß den Qualm aus, wurde von einem Hustenanfall geschüttelt und griff fahrig nach einem Glas auf dem Beistelltisch. Kate reagierte schnell, hielt ihrer Mutter das Glas an die Lippen; Victoria nippte daran und saß dann regungslos da. “Schlimmer kann es ohnehin nicht mehr werden.”
“Es gibt doch sicher Heilungsaussichten, Mutter? Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Arzt diese fatalistische Einstellung akzeptiert. Leo achtet doch gewiss in deinem Fall strengstens auf alles!” Sie schaute ihre Mutter scharf an. “Oder weiß er, dass du rauchst?”
“Der ist noch schlimmer als du!”
“Du bist ihm eben nicht gleichgültig.”
“Er soll sich lieber um sich selber kümmern”, sagte Victoria etwas geziert. “Sein Cholesterinspiegel ist viel zu hoch.”
“Woher weißt du das?”
“Von Ruby Zeringue, seiner Sprechstundenhilfe. Du kennst sie. Bitte, Kate, du warst so lange nicht zu Hause! Wir haben uns ewig nicht gesehen. Lass mich ein paar Tage einfach nur deine Gesellschaft genießen. Dann kannst du wieder die Ärztin spielen.”
Kate fiel ein, wie ihre Mutter vor acht Monaten bei ihr zu Besuch gewesen war und sie zusammen für ein Wochenende mit dem Zug nach New York gefahren waren. Sie fragte sich, ob sie die Anzeichen der Krankheit damals schon hätte erkennen müssen; aber sie war so sehr mit ihrer Scheidung beschäftigt gewesen. Was für eine Tochter war sie eigentlich?
“Mutter, ich bin völlig konsterniert. Wenn ich daran denke, dass …”
Victoria tätschelte ihr den Handrücken. “Ich weiß, Liebes. Mich so vorzufinden ist ein Schock, und ich will nicht, dass du dir Vorwürfe machst – als Ärztin, meine ich. Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube nicht, dass die Chemo viel nützen wird, aber Leo hat darauf bestanden. Er benimmt sich wie ein ältliches Tantchen. Im Grunde hat er mich dazu genötigt. Aber ich bin froh, dass du da bist. Vielleicht kannst du sie überzeugen …”
“Sie? Du bist doch hoffentlich bei einem Spezialisten in Behandlung!”
“Ach, das bringt doch nichts!”
“Mutter, du musst dagegen ankämpfen! Ich habe Patienten erlebt, die unglaublich geringe Chancen hatten und ihre Krankheit dennoch besiegt haben. Ovarialkrebs ist tückisch, ja, aber es gibt viele Varianten. Es kommt darauf an, ob sich Metastasen …”
Victoria zupfte energisch an Kates Arm. “Bitte, verschon mich mit dem medizinischen Zeugs. Das kriege ich reichlich von Leo zu hören. Der redet auch immer von Pathologie und Prognosen und Behandlung und Diagnosen. Du kannst dir nicht vorstellen, was für einen rigorosen Tagesplan er mir verpasst hat!”
“Weil er will, dass du
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