Aus reiner Notwehr
pikiert mitteilte, dass Sam Mrs. Madisons Akte unter persönlichem Verschluss hielt. Diane hatte also Zugang; sie, die Tochter, dagegen nicht, und der kleine Triumph machte ihr die Crawford noch unsympathischer. Im Aufenthaltsraum war sie ziemlich unverblümt gewesen. Möglicherweise wusste sie, dass Sam nicht begeistert gewesen war über Kates Einstieg. Und was das “zur Praxis passen” anbetraf: Das würde sie der Crawford – und Sam! – heimzahlen, egal, ob sie blieb oder nicht.
Sie verließ das Haus, trat hinaus in den abendlichen Schein der Spätsommersonne und sagte sich, dass sie richtig entschieden hatte. Im Vergleich zur Notaufnahme von St. Luke lag die Stressbelastung hier bei Leo deutlich im grünen Bereich. Zugegeben, die Zusammenarbeit mit Sam würde kein Zuckerschlecken; möglicherweise hatte sie nur eine Art von Stress gegen eine andere eingetauscht. Aber es wurden von ihr nicht endlos und tagein, tagaus Entscheidungen gefordert, bei denen es um Leben oder Tod ging.
Ihre Uhr zeigt kurz vor sechs, als sie in ihren Wagen stieg und kaum glauben konnte, dass sie noch den ganzen Abend vor sich hatte. Vom Parkplatz herunter folgte ihr ein Kombi mit Allradantrieb, jedoch vermochte sie wegen der tief stehenden Sonne den Fahrer nicht zu erkennen, und ein paar Straßen weiter stellte sie fest, dass der Wagen immer noch hinter ihr war. Sie schenkte dem weiter keine Beachtung, nahm die Highway-Abfahrt, folgte einer Nebenstraße, doch als sie in die Vermilion Lane abbog, sah sie ihn immer noch im Rückspiegel. Plötzlich überlief es sie eiskalt. Eine ihrer Nachbarinnen war kürzlich vom Dienst bis zu ihrer Wohnung verfolgt worden und hatte es mit knapper Not in die Tiefgarage geschafft. Bevor die automatischen Tore sich gänzlich schließen konnten, hatte ihr Verfolger sie tätlich angegriffen und vergewaltigt. Auch wenn sie hier in Bayou Blanc und nicht in der Bostoner City war – die Tatsache, dass jemand sie bis in diese ziemlich einsame Gegend verfolgte, kam ihr nicht geheuer vor.
Er folgte ihr tatsächlich, machte kein Hehl daraus, klebte geradezu an ihrer Stoßstange. Ungewöhnlich scharf bog sie in die Hofeinfahrt und brachte den Wagen abrupt zum Stehen. Was jetzt? Sie stieg aus, hielt sich das Autotelefon ans Ohr, als ob sie Hilfe rufen wollte, und eilte dann auf die Haustür zu.
“He, Kate! Nun warte doch mal!”
Sie blickte über die Schulter und konnte sehen, wie ihr “Verfolger” merkwürdig unbeholfen aus seinem Geländewagen kletterte. Einem Sittlichkeitsverbrecher sah er nicht ähnlich – er trug einen Arm in einer Schlinge und hinkte leicht. Ihre Angst verflog gänzlich, als er grinsend auf sie zukam, denn das Grinsen kannte sie. Er drückte sie mit dem unverletzten Arm ungestüm an sich, und als er sie endlich losließ, presste sie in gespieltem Entsetzen die Hand auf die Brust. “Nick Santana! Mann, hast du mich erschreckt! Ich zittere noch wie Espenlaub!”
Er war perplex. “Erschreckt? Wieso das denn?”
Kate sackte rückwärts gegen ihren Wagen. “Ich dachte schon, da fährt ein Sexgangster hinter mir her.”
“Das ist aber ‘ne merkwürdige Begrüßung für deinen alten Banknachbarn aus dem Chemiekurs!”
Sie stimmte in sein Lachen ein. “Du vergisst, dass Mr. Sturgis uns rausgeschmissen hat. Du hattest so ‘n bescheuertes Experiment in einem Magazin gefunden, das du unbedingt ausprobieren musstest!”
“Richtig. Na, deiner Karriere scheint es nicht geschadet zu haben.” Er trat etwas zurück und schaute sie von Kopf bis Fuß bewundernd an. “Kate, du siehst klasse aus! War höchste Zeit, dass du dich mal zu Hause sehen ließest. Was hat Boston, das New Orleans nicht auch bietet?”
“Bayou Blanc ist nicht New Orleans, Nick.”
“Aber fast! Ach, du weißt, was ich meine!”
Sie nahm ihn genauer in Augenschein: schwarzes Haar, dunkle Augen, sehnig und hager wie ein Puma – Gott, ein Mann wie Samt und Seide! Aber das war er immer gewesen, schon als er mit Amber ging. Nur wirkten unter dem berüchtigten Santana-Grinsen seine Gesichtszüge jetzt fester, härter, sein Blick schärfer. Die Dienstjahre als Polizist in New Orleans hatten Spuren hinterlassen, aber ein umwerfend attraktiver Mann war er geblieben.
“Und? Wie geht’s?”
“Gut, Nick, und dir?”
“Kann mich nicht beklagen.” Er musterte sie immer noch eingehend.
“Und das da?” Sie zeigte auf die Schlinge.
“Ganz schöner Mist. Bin bei ‘ner Schießerei zur falschen Seite ausgewichen und
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