Aus reiner Notwehr
Affäre mit dieser Hillary war mir völlig schnuppe. Nicht kalt gelassen hat mich allerdings sein Vorwurf der Vernachlässigung, denn damit hatte er in der Tat recht. Ich wusste nicht, dass ein Ehemann verwöhnt werden will, mein Beruf nahm mich schon sehr in Anspruch, als wir heirateten. Wie sich herausstellte, verstand ich mich nicht sehr auf die traute eheliche Zweisamkeit. Er hat’s gemerkt und sich anderweitig umgeschaut.”
“Lächerlich! Also, wenn du Wert auf meine Meinung legst: Das war nur seine Begründung dafür, dass er sich herumgetrieben hat. Männer brauchen nur den geringsten Anlass, um alles auszuprobieren, was ihnen vor die Augen kommt.”
“Mein Vater auch?”
Victoria war verblüfft. “Vater? Wie kommst du denn jetzt darauf?
“Durch deinen Tonfall, zum Beispiel. Du redest, als sprächest du aus Erfahrung. Also, Vater auch?”
“Meine Güte, Mädchen, er ist seit über dreißig Jahren tot. Aber nein, eheliche Untreue zählte nun nicht zu seinen Fehlern.”
“Was dann, Mutter? Perfekt kann er nicht gewesen sein, sonst hättest du mehr über ihn erzählt. Ist dir klar, dass ich kaum etwas über ihn weiß? Leo steht mir fast näher als Daddy!” Sie schüttelte verwirrt den Kopf, und ihr Herz klopfte. “Ich kann mich gar nicht erinnern, was ich zu ihm gesagt habe – ‘Daddy’ oder ‘Dad’ oder ‘Vater’?”
Ihre Mutter setzte die Brille wieder auf und erhob sich unsicher. “Darüber wolltest du mit mir sprechen? Großer Gott, und ich dachte schon, ich müsste mir Fragen zu meiner Krankheit anhören. Da bin ich aber erleichtert!”
“Warum? Weil es nicht viel zu sagen gibt?” Kate legte die Hand an die Stirn und schritt im Zimmer auf und ab. “Alles ist so … so undeutlich, dieser Tag auf der Yacht, so nebulös … aber wenn ich darüber nachdenke, dann … dann verspüre ich …” Sie schüttelte düster den Kopf. “Ich weiß nicht, was … Angst, oder … irgendwie Furcht. Ist das nicht merkwürdig, Mama?” Sie blickte Victoria an und versuchte zu lächeln.
“Du hast ‘Daddy’ zu ihm gesagt.” Ihre Stimme wurde weich; sie ging zu einem Tisch und schlug ein Fotoalbum auf, das dort lag. Es enthielt Bilder, die Kate als kleines Mädchen zeigten. Auf einem waren sie alle drei zu sehen – sie im Alter von vier Jahren, zusammen mit ihren Eltern. Es fiel auf, dass niemand lächelte. “Du hast ihn selten gesehen. Er war nur am Wochenende hier, und dann hat er viel telefoniert oder mit Geschäftspartnern in seinem Arbeitszimmer gesessen.”
“Warst du glücklich?”
Victoria machte das Album zu. “Ich hätte mir eine Stelle suchen sollen. Die Ausbildung und den Grips hatte ich. Aber dein Vater war dagegen. Als Frau sollte man sich nicht von seinem Mann abhängig machen. Wenn ich nicht zufrieden war, ist es meine eigene Schuld.”
Erneut verspürte Kate eine unerklärliche Unruhe – wie immer, wenn die Sprache auf dieses Thema kam. Ihre Mutter sah müde und zerbrechlich aus. Kate trank ihr Glas aus und setzte sich neben sie auf einen Stuhl. “Ich habe mir oft den Kopf zerbrochen über Daddy, aber er wird mir wohl immer nur schemenhaft in Erinnerung bleiben. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich diesen Kinderkram dauernd ausgrabe. Es hat doch wohl nichts zu bedeuten, oder?”
“Nein.”
“Und du hattest recht, ich wollte gar nicht über Daddy reden, sondern über dich und deinen Zustand.” Kate lächelte, klopfte sacht mit der flachen Hand einladend auf den Stuhl, und Victoria setzte sich seufzend.
“Über meinen Krebs, meinst du. Du kannst es ruhig laut sagen, es macht mir nichts mehr aus.”
“Ich hatte heute ein Gespräch mit Sam Delacourt. Er sollte mir Einsicht in deine Krankenakte gewähren, aber er hat sich strikt geweigert.”
“Das will ich doch hoffen!”
“Mutter, ich muss sie einsehen.”
Victoria legte ihre Hand auf das bloße Knie ihrer Tochter. “Das Gleiche war’s mit Leo. Sam ist ein erstklassiger Arzt, glaub’s mir, ich könnte mir keinen besseren wünschen. Er ist gefühlsmäßig nicht involviert – im Gegensatz zu Leo und dir! Er kommt, wenn ich ihn brauche, und trotzdem habe ich nie das Gefühl, dass ich ihn emotional überfordere, aber bei dir und Leo wäre das der Fall! Also, lass mich machen, ja?” Sie tätschelte Kates Knie noch einmal. Kate legte den Kopf gegen den geschnitzten Rahmen der Stuhllehne.
“Bleibt mir wohl nichts anderes übrig, oder?”
“Allerdings!”
Sie richtete sich auf und sah ihre Mutter an.
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