Aus reiner Notwehr
“Darf ich dich wenigstens untersuchen? Meine Arzttasche ist oben, geht ganz schnell!” Sie sah, wie ihre Mutter die Augenbrauen zusammenzog. “Nur Blutdruck und Puls und Brust abhören, okay? Mehr nicht, Ehrenwort! Und vielleicht nur eben deine Medikamente ansehen.”
“Also, Kate …”
Und im Weggehen fügte sie leise hinzu: “Ich erzähle dir dafür von Robert und diesem blonden Flittchen, für das er mich abserviert hat …”
Sie sah noch, wie sich Victorias trockene Lippen zu einem gequälten Lächeln formten, und ging ihre Tasche holen.
10. KAPITEL
E ine volle Woche lang genoss Kate eine Art süßen Nichtstuns und frönte dem Müßiggang; dann aber nahm sie Leos Angebot an und trat in die Praxis ein, was eine Reihe von Erledigungen und Behördengängen nach sich zog. Durch einen Makler überließ sie ihre Bostoner Wohnung einem Untermieter, kündigte ihre Mitgliedschaft in Fitness-Clubs, schickte ihre neue Adresse an Freunde und Bekannte, tätigte verschiedene Telefonanrufe und schrieb auf, an was sie für den Fall eines endgültigen Verbleibs in Bayou Blanc denken musste.
Dies alles dauerte jedoch nicht lange, und da sie einen knochenharten Dienstplan gewohnt war, ging ihr das Faulenzen schnell auf die Nerven. Am Swimmingpool die Zeit zu verplempern, langweilte sie, und es gab kaum etwas für sie zu tun, da Rose Jenner, die langjährige Haushälterin, sich um alles kümmerte. Hin und wieder speiste sie mit Amber zu Mittag, ansonsten leistete sie ihrer Mutter Gesellschaft. Somit zerbrach sie sich viel zu häufig den Kopf über ihre Zukunft als Medizinerin, insbesondere über ihre Angst, in Krisensituationen zu versagen. Länger als eine Woche hätte sie dieses Lotterleben nicht ausgehalten.
Am ersten Arbeitstag erschien sie in aller Frühe, um sich mit den örtlichen Gegebenheiten, internen Abläufen, dem Labor, dem Abrechnungsmodus und dergleichen vertraut zu machen. Sie ging geradewegs zu Ruby Zeringue, denn sie saß an der Quelle.
“Wird Zeit, dass du hier anfängst, Kate.” Ruby stand auf, zerrte sie mit sanfter Gewalt in die kleine Teeküche, schenkte sich und ihr einen höllisch starken Chicory-Kaffee ein und lehnte sich mit der Tasse in der Hand und einem schelmischen Blick in ihren schwarzen Augen gegen die Küchentheke. “Was hab ich dir gesagt, Mädchen? Kommst du heim zu Fais-Do-Do, kann’s sein, dass du verhext wirst. Unser Doktor Leo hat mir erzählt, du willst jetzt hier arbeiten?”
“Vorübergehend, Ruby.”
Ruby schnaubte verächtlich. “Abwarten! Zunächst richtest du dich häuslich ein. Ein leeres Büro haben wir noch, nur gab’s keinen, dem wir’s gern gegeben hätten.” Sie grinste, und ihre schwarzen Locken tanzten auf und nieder. “Jedenfalls bis jetzt nicht.”
“Hat hier jeder Arzt eine eigene Arzthelferin?”
Rubys Grinsen veränderte sich kaum merklich. “Nur Sam. Du kennst Diane Crawford ja, sie ist mit ihm aus New Orleans gekommen, also frag sie besser nicht!”
Kate zog eine Augenbraue hoch. “Kapiert!”
“Cheryl ist gut, mault nicht, auch wenn sie länger arbeiten muss. Jenny hat zwei kleine Gören, wäre schön, wenn du bei späten Patienten darauf Rücksicht nehmen könntest. Kommt in letzter Zeit häufiger vor, dass wir erst um sechs oder sieben Feierabend machen; Sam zieht die Leute in Scharen an. Wir haben viele, die sonst nach New Orleans gefahren sind.” Sie nippte an dem heißen Gebräu. “Dich hat der liebe Gott geschickt”, fuhr sie fort. “Dr. Leo hat sich gefreut wie ‘n Schneekönig. So schnell kommst du hier nicht wieder weg!”
Kate lächelte. Rubys Worte taten gut nach all den Selbstzweifeln und nach Sams schroffer Ablehnung. Aber der Spaß verging ihr beim Klang von Sams Stimme. “Ruby, darüber machen Sie sich mal keinen Kopf!”
Kate fuhr herum, und der überschwappende Kaffee verbrühte ihr die Finger. Er stand an der Tür, die Hände in den Taschen, Blutflecken auf seinem gelben Pullover, abgekämpft, erschöpft – und eine Spur zu anziehend.
“Ach herrje, war wieder schwer was los im OP?” Ruby reichte ihm einen Kaffee, während Kate kaltes Wasser über ihre Hand laufen ließ.
Sam nahm die Tasse. “Ein alkoholisierter Pickup-Fahrer hat einen Jungen auf einem Fahrrad über den Haufen gefahren. Beide sind gegen Mitternacht im OP gelandet.”
Kate wischte den verschütteten Kaffee von der Arbeitsplatte. “Hat kein ausgebildeter Unfallchirurg Notdienst?” Er lehnte am Türrahmen, die Füße in seinen
Weitere Kostenlose Bücher