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Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik

Titel: Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Carreras
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andere und jede Begabung etwas Einzigartiges. Er hielt die endlosen Stimmübungen, mit denen man Gesangsschüler gewöhnlich quält, für sinnlos. Stattdessen hörten wir uns stundenlang die großen Tenöre an, um dahinterzukommen, auf welche Weise sie an ein Stück oder eine Arie herangingen. Er pflegte zu sagen, man müsse alle Wege kennen, um sich für den eigenen entscheiden zu können. Er hat mir geholfen, meinen Stil zu finden und zu verstehen, dass sich ein Opernsänger möglichst tief in die Personen einfühlen muss, die er darstellt. Bei ihm habe ich angefangen, die Libretti zu schätzen,
durch ihn ist mir klar geworden, dass es bei der Oper nicht ausschließlich auf die Musik ankommt und ich mit meiner Stimme auch Gefühle vermitteln muss, die Empfindungen der Person, die ich jeweils darstelle.
    Seine Anregungen brachten mich dazu, mir zu Hause weiterhin Plattenaufnahmen bedeutender Opernsänger anzuhören, und sie waren wie neue Lektionen, die ich in mein Studium aufnahm. Ich lauschte ihnen aufmerksam, um zu verstehen, auf welche Weise sie sich in die von ihnen verkörperte Person eingefühlt hatten. Immer wieder hörte ich mir Benjamino Gigli, Richard Tucker, Franco Corelli, Mario del Monaco und vor allem Giuseppe Di Stefano an. Ihn hatte ich ein Jahr zuvor zum ersten Mal als Riccardo in Verdis Ein Maskenball im Liceu erlebt. Niemand hatte mich so beeindruckt wie er: Ihn zu hören war eine Freude für die Seele.

    Ruax, der ohne seine Lähmung vermutlich ein berühmter Tenor geworden wäre, denn er besaß alle Voraussetzungen dafür, war für Carreras’ Lernfortschritt von entscheidender Bedeutung. Um ihn hinreichend fördern zu können, ist er jahrelang morgens kurz nach fünf Uhr aufgestanden, um früh mit seiner Arbeit als Zahntechniker zu beginnen. Als der inzwischen zweiundzwanzigjährige Carreras nach Ruax’ Ansicht genügend vorbereitet war, um sich als Berufssänger zu präsentieren, bestärkte er ihn darin, am Liceu vorzusingen. Auch später, als er anfing, an den wichtigsten Opernhäusern der Welt aufzutreten, hat Carreras die Verbindung zu seinem Mentor nicht abreißen lassen. Es kam durchaus vor, dass er ihn aus Mailand, Wien oder New York anrief, um ihn um Rat zu bitten. »Maestro, ich weiß nicht, was mit mir ist, aber irgendwie kriege ich das hohe C nicht hin.« Ruax, weit davon entfernt, sich Sorgen zu machen, beruhigte ihn, bestärkte ihn und sagte ihm, er solle sich deswegen keine grauen Haare wachsen lassen, das hohe C sei ihm noch nie leichtgefallen.
    Auch bei anderen Gelegenheiten hat er ihm ganz nebenbei, und als ob nichts dabei sei, hilfreiche Ratschläge gegeben. Carreras lachte, weil Ruax mit dem Scherz über das C den Druck von ihm genommen hatte, und erfasste rasch den darin enthaltenen Hinweis. Wann immer er sich einige
Tage in Barcelona aufhielt, suchte er ihn auf, um mit ihm über verschiedene Aspekte seiner Karriere zu sprechen, und häufig hat sich Ruax in Carreras’ Haus in l’Ametlla del Vallès aufgehalten.
    Wie das Leben so spielt: Als man den Tenor, nachdem man bei ihm im Sommer 1987 in Paris Leukämie diagnostiziert hatte, ins Hospital Clínico Provincial von Barcelona brachte, wurde auch der inzwischen achtzigjährige Joan Ruax dort eingewiesen.

    Wir hatten einige Wochen zuvor miteinander telefoniert, kurz nachdem man mich nach Barcelona gebracht hatte. Doch als ich erfuhr, dass man ihn wegen Nierenversagens in dasselbe Krankenhaus gebracht hatte, in dem ich behandelt wurde, musste ich ohnmächtig darauf verzichten, ihn zu besuchen. Er lag nur ein Stockwerk über mir, ganz in meiner Nähe, doch ich befand mich im dritten Zyklus der Chemotherapie in einem sterilen Zimmer der hämatologischen Abteilung. Ruax ist im Oktober gestorben, nur wenige Tage, bevor man mich zu einer autologen Knochenmarktransplantation nach Seattle gebracht hat. Es war mir nicht möglich, mich von ihm zu verabschieden, wie ich das gern getan hätte. Er war verheiratet, aber kinderlos und sah in mir so etwas wie seinen künstlerischen Sohn. Zwischen uns bestand eine gegenseitige Zuneigung, ein grenzenloses Vertrauen und eine große Achtung. Er hatte mir beigebracht, dass Singen in allererster Linie eine Lust ist. Mir ist bewusst, dass er für meine Laufbahn eine Schlüsselfunktion hatte. Dass ich ihm begegnet bin, war für mich eine Gnade des Schicksals.

5.
Der Chemiker, auf den die Kosmetikindustrie verzichten musste
    O bwohl Carreras nie ein anderes Berufsziel hatte, als Sänger zu

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