Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
werden, hatte er sich nach dem Abitur, zu einer Zeit, als er noch bei Maestro Puig Gesangsstunden nahm, für das Fach Chemie eingeschrieben und das Studium fast zur gleichen Zeit aufgenommen, als seine Mutter starb. Sie hatte ihm geraten, neben der Gesangsausbildung Chemie zu studieren, damit er bei Bedarf jederzeit in das Kosmetikunternehmen eintreten konnte, das sein Schwager Ramiro zusammen mit seinem Bruder Albert – der eine Chemiker, der andere Kaufmann – einige Jahre zuvor mit einem jeweils hälftigen Anteil im Stadtviertel Sants gegründet hatte. So hatte er sich ziemlich lustlos und in erster Linie deshalb immatrikuliert, um seiner Mutter keinen Kummer zu bereiten. Schon in Argentinien hatte sie – zweifellos, weil sie einen klaren Blick für die Realitäten hatte – Albert gedrängt, den Beruf des Friseurs zu erlernen, was dieser aber rundheraus abgelehnt hatte. Nach der Rückkehr hatte sie ihm dann nahegelegt, sich wenigstens in seiner Freizeit mit den Grundlagen dieses Handwerks zu beschäftigen, wozu sich Albert widerwillig bereit erklärte. Deshalb war er nicht ganz unbedarft und konnte sich Jahre später mit dem Schwager an die Gründung des Kosmetikunternehmens Lendan wagen, das schon nach kurzer Zeit am Markt sehr erfolgreich war.
Um etwas Geld zu verdienen, begann also auch José Carreras für die Firma Lendan zu arbeiten. Die Zeiten waren schwer, zumal nach dem Tod der Mutter, und so nahm er sich neben dem Chemiestudium und dem Musikunterricht an der Gesangsakademie noch Zeit, mit einem SEAT 600 die Erzeugnisse des Unternehmens an Friseursalons zu liefern und die dafür fälligen Beträge zu kassieren.
Da mein Bruder Albert und mein Schwager Ramiro für einen Teil der Kosten meines Chemiestudiums sowie des Gesangsunterrichts aufkamen, hielt ich es für angebracht, auf irgendeine Weise selbst einen Beitrag zu leisten, obwohl mich niemand dazu aufgefordert hatte. Auch wenn ich nach wie vor kein anderes Ziel verfolgte, als Opernsänger zu werden, erschien es mir sinnvoll, einen anderen Beruf zu erlernen oder zumindest Grundkenntnisse darin zu erwerben, und so brachte ich ein ganzes Jahr des Chemiestudiums hinter mich und nahm das zweite in Angriff. Obwohl ich mir Mühe gab, muss ich gestehen, dass mich die Sache nicht besonders interessierte, sodass der Moment kam, an dem ich beschloss, mich nicht länger zu verzetteln. Inzwischen hatte ich Unterricht bei meinem Mentor Ruax und sah den Augenblick immer näher rücken, da ich den Sprung auf die Opernbühne wagen konnte. Im Herbst 1968 trat ich durch Vermittlung von Antonio Fernández Cid, einem bekannten Musikkritiker der Tageszeitung ABC, der seine eigene Sendung im spanischen Staatsfernsehen hatte, zum ersten Mal im Fernsehen auf. Ich hatte den Mann überhaupt nicht gekannt, doch einer meiner Freunde, der im Hotel Manila arbeitete, stellte mich ihm vor, und ich bekam Gelegenheit, ihm zwei oder drei Stücke vorzusingen. Besonders beeindruckt hat ihn mein Vortrag der kurzen Arie »Amor ti vieta« (Die Liebe verbietet dir ) des Grafen Loris aus der Oper Fedora von Umberto Giordano, und er hat mich gefragt, ob ich bereit sei, sie am nächsten Tag in seiner Sendung zu singen, die am Vormittag aufgezeichnet wurde. Ich sagte zu und fand mich am nächsten Morgen um acht Uhr äußerst angespannt und nervös im Studio von Miramar ein. Es war meine Feuerprobe. Fernández Cid persönlich hat mich eingeführt und als äußerst begabten jungen Sänger vorgestellt. Seine Worte spornten mich an, und ich sang die Arie recht gut. Am nächsten Tag bekam ich von vielen Leuten, die mich gesehen hatten, Glückwünsche, und ich hatte den Eindruck, dass das der Anfang meiner Karriere sein könnte.
Einige Monate später ermutigte ihn sein Mentor Ruax, am Liceu vorzusingen, nachdem Carreras wenige Wochen zuvor eine schwere Enttäuschung erlebt hatte: In einem nach dem katalanischen Tenor Francesc Viñas – der um das Ende des 19. Jahrhunderts, also noch vor Caruso, berühmt gewesen war – benannten Gesangswettbewerb war er nicht über die erste Runde hinausgekommen.
Nachdem der Sekretär des Liceu-Direktors Carreras ein Datum für das Vorsingen genannt hatte, bereitete dieser zwei Arien vor, eine aus Verdis La Traviata, die andere aus Bizets Carmen . Er machte sich im vollen Bewusstsein dessen, was für ihn auf dem Spiel stand, auf den Weg zum Liceu. Der Direktor, Joan Antoni Pàmias, hatte es sich in der fünften Reihe des Parketts bequem gemacht und rauchte
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