Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
überzeugt war, dass der Gesang mein Beruf sein würde, hat mir sogar großen Erfolg damit vorausgesagt: »Ich weiß, dass du ein ganz Großer sein wirst«, war das Letzte, was sie zu mir sagte. Von diesem Tag an habe ich mir vorgenommen, die Hoffnungen, die sie sich gemacht hatte, auf keinen Fall zu enttäuschen. Wenige Stunden nach diesem Gespräch verlor sie das Bewusstsein. Mein einziger Trost war, dass sie nicht lange zu leiden brauchte.
Als ich fünf Jahre später im Liceu in der Rolle des Flavio in Bellinis Norma mein eigentliches Debüt als Sänger feierte – zuvor hatte ich auf der Bühne ja lediglich Kinderrollen verkörpert –, habe ich viel an meine Mutter gedacht. Es war bewegend, den Beifall des
Publikums zu hören und dabei daran zu denken, wie stolz sie in diesem Augenblick gewesen wäre. Es waren einige ganz besondere Tage, an denen ich nicht nur über meine Beziehung zu Musik und Gesang oft nachgedacht habe, sondern auch darüber, welch entscheidende Rolle sie in diesem Zusammenhang gespielt hatte. Sie hatte es stets verstanden, mich zu bestärken und mich in Augenblicken der Mutlosigkeit anzuspornen. Es erschien mir als große Ungerechtigkeit, dass ich sie verloren und nur achtzehn Jahre meines Lebens an meiner Seite gehabt hatte. Mit ihr war eine beschützende Hand, eine unentbehrliche Verbündete aus meinem Leben verschwunden. Zwar verzweifelte ich nicht, doch empfand ich eine ungeheure Leere. Meinen Vater hat ihr Tod sehr mitgenommen, er hatte an ihr gehangen und fühlte sich nun ungeheuer allein. Zwei Jahre später hat er wieder geheiratet und noch einen Sohn bekommen, und so habe ich in Jordi einen Bruder, der zwanzig Jahre jünger ist als ich. Bis zu seinem Tod mit 84 Jahren haben meine Geschwister und ich unseren Vater – an der Seite seiner zweiten Frau Montserrat – stets als glücklichen Menschen erlebt.
Der Unterricht bei Maestro Puig tat dem jungen Carreras gut, doch fand er nach drei Jahren, dass er, wenn er weiterkommen wollte, mehr brauchte, als ihm dieser zu bieten hatte. In jener Zeit der Unsicherheit, des Schwankens und des Zweifelns lernte er einen Zahntechniker namens Joan Ruax kennen, der für seine Sängerlaufbahn von entscheidender Bedeutung wurde. Ruax besaß eine tief gehende musikalische Bildung und erkannte vom ersten Tag an, was an Josés Stimme gut war und was nicht. Den ersten Kontakt hatten die beiden einige Jahre zuvor bei einer Feier in einem Haus in der Calle Verdi im Stadtviertel Gràcia gehabt, an der die Eltern Carreras wie auch einige Mitglieder des Opernchors vom Liceu teilgenommen hatten. Nachdem Carreras einige Lieder gesungen hatte, hatte sich ihm ein Mann mit einer großartigen Tenorstimme vorgestellt, der wegen Kinderlähmung im Rollstuhl saß. Zwar hatte er keine akademische Ausbildung als Gesangslehrer, doch war er überzeugt, zur Förderung von Carreras’ Begabung beitragen zu können. Bei einer anderen Feier waren die beiden einander
erneut begegnet, doch erst, als er sich in einer künstlerischen Krise befand, entschloss sich Carreras, Ruax um Hilfe zu bitten. Damals erwog er, zum weiteren Gesangsstudium nach Italien zu gehen, dem Mekka aller jungen Sänger, wollte aber zuvor mit jenem Mann sprechen, der ihm stets einen Rat zu seiner Stimme geben konnte.
Ich suchte Joan Ruax auf, weil ich Schwierigkeiten mit der Intonation hatte. Er erklärte mir, er könne mir nichts garantieren, werde mir aber einige Ratschläge erteilen, die mir bei der Lösung meiner Probleme möglicherweise helfen könnten. Dieser Mann mit einer bemerkenswerten Persönlichkeit war für meine Ausbildung von entscheidender Bedeutung. Seine Maxime lautete: Folge deiner Intuition und opfere der Technik keine einzige Note, nicht den winzigsten Ausdruck und nicht den leisesten Anflug von Gefühl. Während unseres Unterrichts von elf bis zwölf Uhr am Vormittag brachte er die Hälfte der Zeit damit zu, über Musik zu reden. Zwar unterwies er mich darin, wie ich singen sollte, vor allem aber zeigte er mir, wie ich es nicht tun sollte. Er bemühte sich unablässig, mich darin zu bestärken, dass ich meinem Talent und meinem musikalischen Instinkt folgte und beidem auf so natürliche Weise wie möglich Ausdruck verlieh. Außerdem schärfte er mir ein, dass es beim Gesang keine allgemeingültigen Regeln gebe und es ein grundlegender Fehler sei, sich einer bestimmten Methode zu unterwerfen, was schon so manchem jungen Talent die Karriere verdorben habe. Keine Kehle sei wie die
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