Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
dem Satz »Vo’ la tromba, il cavallin!« (Will ’ne Trompete, will ein Pferd!). Zwar war sie unbedeutend, doch trat er im Rahmen einer großen internationalen Produktion mit den beiden Stars Renata Tebaldi als Mimi und Gianni Raimondi als Rodolfo auf. Raimondi begrüßte den Jungen bei der Probe liebevoll, und José konnte es gar nicht abwarten, zu Hause zu erzählen, dass dieser ihm vorausgesagt hatte, er werde einmal ein bedeutender Tenor werden.
Ich habe im Lauf meines Lebens wohl mehr als zweihundertmal in La Bohème gesungen, aber jedes Mal bewegt es mich, wenn ich diesen Satz höre, während ich auf der Bühne stehe. Mich überkommt eine sonderbare Sehnsucht, die mich befürchten lässt, meinen Einsatz zu verpassen, denn sogleich, nachdem der Junge nach der Trompete und dem Pferd verlangt hat, muss Rodolfo singen »E tu Mimì, che vuoi?« (Und was willst du, Mimi?)
In der nächsten Spielzeit bot mir das Liceu eine Rolle in Engelbert Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel an. Ich stand kurz vor meinem dreizehnten Geburtstag und merkte unmittelbar vor den ersten Proben, dass ich eher jodeln als richtig singen würde. Meine Stimme stand im Begriff, sich zu verändern, und was mir früher leichtgefallen war, wurde jetzt zu einer unmöglich zu bewältigenden Herausforderung. Rein technisch sieht die Sache wie folgt aus: Der Sopran eines Jungen liegt eine Oktave über der des Tenors, und mit dem Stimmbruch rutscht alles eine Oktave nach unten. Deshalb war es mir unmöglich, die mir zugedachte Rolle in Hänsel und Gretel zu singen. Und ich beschloss aufzuhören.
Als Halbwüchsiger hörte José Carreras zu Hause stundenlang Musik. Die Eltern hatten ihm in einem Laden in der Stadtmitte, der einem ehemaligen Spieler des FC Barcelona gehörte, einen Plattenspieler gekauft. Seine ersten Platten waren von Mario Lanza gesungene Ausschnitte aus dem Film Der große Caruso, neapolitanische Lieder mit Giuseppe Di Stefano, eine Sammlung von Opernarien mit Mario del Monaco … Als er anfing, Partys zu besuchen, bot er nie an, seinen Plattenspieler mitzubringen, weil er den nicht zum Feiern bekommen hatte, sondern zum Lernen. Die Doppelbelastung durch Schule und Konservatorium brachte es mit sich, dass er sein Abitur nur mit Ach und Krach schaffte. Zwar war er kein glänzender Schüler, aber Erdkunde und Geschichte machten ihm Freude.
Zum ersten Mal – harmlos – verliebt hat er sich mit zwölf Jahren in eine Schulkameradin namens Montserrat. Als er ein halbes Jahrhundert später im Barceloner Stadtteil Sant Cugat einen Vortrag hielt, gab sie sich ihm zu erkennen, und er sagte zu ihr: »Wenn du wüsstest, wie verknallt ich damals in dich war.« Ebenfalls mit zwölf Jahren feierte er einen sportlichen Erfolg, denn er gewann mit der Mannschaft seiner Schule die Schüler-Basketballmeisterschaft Kataloniens. Diesen dort überaus beliebten und schon früh heimisch gewordenen Sport hat er als Aufbauspieler noch eine ganze Weile weiter betrieben, soweit ihm das seine künstlerischen Verpflichtungen ermöglichten. Den ersten Kuss hat er mit vierzehn oder fünfzehn Jahren auf einer Parkbank einer gewissen Blanquita gegeben. Sie
wohnte an der Einmündung seiner Straße in die Calle Cros, wo die jungen Männer des Viertels in der Johannisnacht mit ausrangierten Möbeln ein großes Feuer zu machen pflegten, um das herum sie Feuerwerkskörper anzündeten und die traditionellen süßen Kuchen mit Pinienkernen aßen.
Ich trat nicht mehr auf, bis ich siebzehn Jahre alt war, führte aber meine Studien am Konservatorium weiter und besuchte Aufführungen im Liceu. Obwohl es für meine Mutter ein beträchtliches finanzielles Opfer bedeutete, kaufte sie mir ein Abonnement im obersten Rang, damit ich keine Oper verpasste, die dort gespielt wurde. Außerdem besorgte ich mir, sooft es ging, eine Stehplatzkarte im vierten oder fünften Rang, sodass ich weiteren Vorstellungen beiwohnen konnte – eine ausgezeichnete Schule. Zum ersten Mal hörte ich meine damalige Lieblingsoper Rigoletto mit dem Tenor Gianni Poggi, der mich nicht nur mit seiner Stimme beeindruckte, sondern auch mit seinem Auftreten und der Art, wie er bei seiner ersten Arie »Questa o quella« (Ob diese oder jene) liebevoll über seine weißen Handschuhe strich. Kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag merkte ich, dass ich in der Tat eine Tenorstimme hatte, der es allerdings noch an Höhe mangelte. Ich erinnere mich, dass ich daranging, zu Hause überaus fleißig zu üben,
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