Aus vollem Herzen: Über das Geschenk des Lebens und die Kraft der Musik
und mir mitunter von morgens bis abends Opern und andere Musik anhörte. Meine Eltern, die mit der Möglichkeit rechneten, dass ich die Sängerlaufbahn einschlagen würde, kauften mir Opernpartituren, die ich eingehend studierte, um sie möglichst gut kennenzulernen. Da sich Barcelonas Opernpublikum damals für Giacomo Aragall begeisterte, der mit seiner herrlichen Stimme selbst in Italien Triumphe feierte, bemühten sich meine Eltern darum, dass dessen Lehrer Jaime Francisco Puig auch mich als Schüler annahm.
Maestro Puigs Gesangsstudio lag im zweiten Stock eines Hauses in der Calle del Rec, einer Straße in der Stadtmitte, die dem Lauf eines alten Entwässerungskanals zum Meer folgt. Dort, im Stadtviertel Ribera, wo die Fischer im Mittelalter ganz in der Nähe eine eindrucksvolle gotische Kirche
erbaut hatten, die der Volksmund Kathedrale des Meeres nennt, hat Carreras drei Jahre lang Unterricht bekommen. Der Weg von der elterlichen Wohnung dorthin war so weit, dass die Hin- und Rückfahrt mit der Straßenbahn jeweils rund eine Stunde dauerte. Aragalls Gesangslehrer nahm Carreras als Schüler an, nachdem dieser die anspruchsvolle Partie des Othello vorgesungen hatte. Er hätte auch etwas Leichteres wählen können, wollte sich aber einer Verdi-Oper stellen, die ihn begeisterte und die er auswendig konnte. Der Maestro wunderte sich über diese Wahl und fragte ihn auch, ob er sicher sei, mit einer so anspruchsvollen Partie antreten zu wollen. Sie war für einen begabten und aufstrebenden jungen Tenor zwar nicht die nächstliegende Wahl, aber Carreras war sich seiner Sache sicher.
Es war ein ziemlich verwegenes Unterfangen, doch wusste Puig, ein herzlicher Mensch mit vortrefflichem Musikverstand und viel Geschmack, nicht nur meine Lust am Singen zu schätzen, sondern auch meinen Wagemut und meine Stimme. Meinen Eltern sagte er, sie erscheine ihm wert, ausgebildet zu werden, und er erklärte sich bereit, das zu übernehmen. Eines Tages suchte ihn Giacomo Aragall mitten in einer Unterrichtsstunde auf. Nachdem er mich hatte singen hören, sagte er mir freundliche Worte und ermutigte mich sehr. Ich war mächtig stolz darauf, ihn kennengelernt zu haben, denn ich bewunderte ihn zutiefst. Im Laufe der Jahre haben wir uns miteinander angefreundet, und die gegenseitige Wertschätzung dauert bis zum heutigen Tag an.
Die musikalische Ausbildung des jungen Tenors ging jetzt ihren Gang. Nie - mand hatte ihn in seinem Wunsch, Opernsänger zu werden, mehr bestärkt als seine Mutter Antònia. Sie arbeitete hart in ihrem Damensalon – der sich nicht mehr in dem Haus befand, in dem sie wohnten, sondern einige Meter weiter –, um ihrem Jüngsten mit ihren Ersparnissen zum Studium zu verhelfen, damit ihm die Besucher der Opernhäuser der ganzen Welt eines Tages zu Füßen liegen würden. Im Herbst des Jahres 1965, einen Monat, bevor er neunzehn Jahre alt wurde – inzwischen studierte er seit einem Jahr Gesang bei Maestro Puig –, brach eine schlimme Nachricht über die
Familie herein: Die Mutter hatte Krebs. Die Krankheit war bereits so weit fortgeschritten, dass der ganze Körper voller Metastasen war, sodass ihr kaum noch zehn Tage zum Leben blieben. Die Ärzte verstanden nicht, wieso sie nie über Schmerzen geklagt hatte, bis ihr das Leben mit Windeseile zu entgleiten begann – ein erneuter Beweis für die Willenskraft und Seelenstärke dieser Frau. Nie hatte jemand von ihr über die Widrigkeiten des Daseins oder die Hindernisse, die ihr das Leben in den Weg gelegt hatte, einen Laut der Klage gehört.
Meine Mutter ist zu Hause gestorben. Als man den Krebs bei ihr feststellte, ging es ihr bereits so schlecht, dass es keinen Sinn gehabt hätte, sie ins Krankenhaus zu bringen. Drei Tage vor ihrem Tod hatte ich mit ihr ein bewegendes Gespräch, in dessen Verlauf sie zu mir sagte: »Kämpfe für das, woran du glaubst. Du bist zum Singen geboren. Aber nimm dir keine Opern vor, die zu anspruchsvoll für dich sind.« Es fällt mir schwer, diese Augenblicke zu beschreiben, doch merkte ich, dass sie sich ausschließlich um meine Zukunft zu sorgen schien. Sicherlich hing das auch damit zusammen, dass meine beiden Geschwister bereits verheiratet waren und Kinder hatten. Sie hat die beiden gebeten, sich um mich zu kümmern. Das haben sie auch getan und mich jederzeit treu unterstützt. Als man Jahre später bei mir Leukämie feststellte, haben sie alles für mich getan und mir von Anfang an zur Seite gestanden. Meine Mutter, die fest
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