Auschwitz
und rauchte sie, während der Deutsche in einer Ecke des Güterwagens zusammensackte. Nach etwa zehn Minuten, als Morris die Zigaretten zu Ende geraucht hatte, forderte er den Deutschen auf, aufzustehen. Dieser weigerte sich. »Also setzen sich ein paar Freunde von mir und ich auf ihn. Und [nach] etwa dreißig Minuten oder einer Stunde war er erstickt, und wir warfen ihn aus dem Waggon. Kein Problem. Wir waren alle froh, daß wir einen Deutschen getötet hatten.«
Selbst heute noch hat Morris »kein Problem« damit, daß er diesen deutschen Gefangenen umgebracht hat. Ihm war es egal, daß dieser Mann in Auschwitz inhaftiert gewesen war. Für ihn zählte nur die Sprache, die er gesprochen hatte: »Ich war glücklich. Sie [die Deutschen] haben meine Familie umgebracht, dreißig bis vierzig Leute, und ich habe einen Deutschen getötet. Pah! Das war gar nichts. Wenn ich hundert von ihnen töten könnte, wäre ich froh, denn sie haben uns vernichtet.« Ganz gleich, welche Fragen man ihm zu diesem Thema stellt, Morris sieht keinen Unterschied zwischen den Deutschen, die in Auschwitz das Sagen hatten, und dem deutschen Gefangenen, den er in jener eisigen Winternacht in einem offenen Güterwagen in Polen tötete. »Ist ja auch egal«, sagt er, »ich wollte mich hinsetzen, weil ich müde war. Warum sollte er weiterleben, nur weil er mir ein oder zwei Zigaretten gab? Er wollte nicht aufstehen, also haben wir uns auf ihn draufgesetzt, und er ist gestorben – ganz einfach.« Morris Venezias fehlendes Mitgefühl mit dem deutschen Gefangenen verdeutlicht den Mangel an moralischem Empfinden, der im Lager herrschte, wo Häftlinge gezwungen waren, nur an das eigene Überleben zu denken.
Das Ziel der etwa 20 000 Gefangenen aus Auschwitz war das Konzentrationslager Bergen-Belsen in Niedersachsen. Wie bereits in Kapitel 5 diskutiert, gilt Bergen-Belsen heute als Inbegriff des Grauens, vor allem wegen der erschütternden Filmaufnahmen nach der Befreiung durch die Briten am 15. April 1945. Diese Bilder von ausgezehrten Menschen, die wandelnden Skeletten ähnelten, schockierten die Welt. Dennoch handelte es sich bei Bergen-Belsen nicht um ein Vernichtungslager, sondern ein Konzentrationslager.
Während Bergen-Belsen 1943 zunächst als »Aufenthaltslager« für »privilegierte« Juden (vor allem ausländischer Nationalität) gedacht war, die gegen im Ausland internierte Deutsche ausgetauscht werden sollten, änderte sich seine Funktion im Frühjahr 1944, und es wurde zu einem Aufnahmelager für arbeitsunfähige Häftlinge. Diese wurden von den deutschen Kapos besonders brutal behandelt. Drei weitere Faktoren trugen dazu bei, daß Bergen-Belsen zu dem Schauplatz des Schreckens wurde, den die Alliierten im Frühjahr 1945 vorfanden: zum einen die Ernennung Josef Kramers im Dezember 1944 zum Lagerkommandanten, des weiteren die Streichung sämtlicher »Vergünstigungen«, die »Austauschjuden« möglicherweise genossen hatten, und zum dritten die Flut von Neuankömmlingen von den Todesmärschen Anfang 1945. Die folgenden Zahlen zeigen diese Veränderungen besonders eindrucksvoll: Ende 1944 hatte das Lager noch 15 000 Insassen; als die Briten im April 1945 eintrafen, waren es 60 000. Seitens der Deutschen wurden praktisch keine Anstrengungen unternommen, um diesen Zustrom an Gefangenen zu ernähren oder unterzubringen.
Aber Statistiken verraten nichts über persönliche Schicksale. Weit aufschlußreicher sind Geschichten wie die von Alice Lok Cahana und ihrer Schwester Edith, die im April 1945 in Bergen-Belsen interniert waren. Für sie war Auschwitz die Grenze dessen gewesen, was Menschen ertragen konnten, aber was sie hier erwartete, übertraf jedes Vorstellungsvermögen. Alice und Edith kamen in Bergen-Belsen an, als das Lager gerade von einer Typhusepidemie heimgesucht wurde. Aufgrund der extremen Überbelegung gab es praktisch keine Unterkünfte. Es gab auch nichts zu essen und so gut wie kein Wasser. Man hatte die Gefangenen von Auschwitz hierhergebracht, um sie ihrem Schicksal zu überlassen. Im Verlauf der nächsten Wochen verloren viele den Verstand. »Es gibt keine Worte, die Bergen-Belsen beschreiben können«, sagt Alice. Jede Nacht drehte ein Kapo, der neben ihnen schlief, durch und trampelte auf Alice und ihrer Schwester herum. Die Baracken waren nur halb fertig und fielen auseinander: »Wenn man zur Toilette mußte, mußte man über Leute steigen. Manche fielen zwischen den Balken im Gang hindurch.« Tag und Nacht hörten
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