Auschwitz
handeln sollen.« Es konnte keinen größeren Gegensatz zwischen der heldenhaften Rettungsaktion der Dänen geben und dem, was sich in einem anderen europäischen Land im Frühjahr und Sommer 1944 ereignete, dem Jahr des größten Mordens in der Geschichte von Auschwitz.
6. Befreiung und Vergeltung
Das Ende kam für viele unerwartet. Eines Nachts im Januar 1945, als die zehnjährige Eva Mozes Kor 1 und ihre Zwillingsschwester Miriam in ihren Etagenbetten in Auschwitz-Birkenau lagen und schliefen, wurden sie plötzlich von einer ohrenbetäubenden Explosion geweckt. Der Winterhimmel war rot vor Flammen. Die Lagerleitung hatte die Krematorien in die Luft sprengen lassen. Wenig später mußten sie ihre Baracken verlassen und zusammen mit anderen Zwillingen, die alle Dr. Mengele als Versuchspersonen für seine Experimente gedient hatten, zum Stammlager Auschwitz laufen. Es war eine Szene wie in einem Alptraum: Über ihnen sahen sie in der Ferne Artilleriefeuer aufblitzen, während sie durch die Dunkelheit hasteten, gnadenlos von den SS-Männern angetrieben. Kinder, die zu schwach waren, wurden erschossen und ihre Leichen achtlos neben der Straße liegengelassen. In dem allgemeinen Chaos verloren zwei Zwillinge ihre Geschwister aus den Augen. Sie sollten sie nie wiedersehen.
Im Stammlager Auschwitz kümmerte sich niemand um Eva und Miriam. Das rigide Überwachungssystem aus Kapos und Aufsehern war zusammengebrochen, und die Gefangenen waren sich selbst überlassen. Eva gelang es sogar, durch den Zaun zu klettern, um von der Sola, die am Lager entlangfloß, Wasser zu holen. Als sie das Eis aufschlagen wollte, entdeckte sie am gegenüberliegenden Ufer ein kleines Mädchen, das etwa in ihrem Alter war. Sie trug wunderschöne Kleider, das sorgfältig geflochtene Haar war mit Bändern geschmückt, und sie hatte einen Schulranzen auf dem Rücken. Für die in Lumpen gehüllte Eva, auf deren Körper es von Läusen wimmelte, war dieser Anblick »fast unwirklich«. Sie starrte das Mädchen nur an. »Zum ersten Mal, seit wir nach Auschwitz gekommen waren«, erzählt sie, »wurde mir bewußt, daß es noch eine Welt außerhalb des Lagers gab, wo Kinder wie Kinder aussahen und in die Schule gingen.«
Eva und Miriam hatten großes Glück, daß sie noch am Leben sind, denn nach dem ursprünglichen Plan der Nationalsozialisten sollten sie zusammen mit Tausenden von Gefangenen, die zurückgelassen wurden, weil sie zu schwach waren, um an dem Massenexodus teilzunehmen, umkommen. Der Befehl für ihre Ermordung war am 20. Januar von SS-Obergruppenführer Heinrich Schmauser 2 , dem Höheren SS- und Polizeiführer von Oberschlesien, an die Lagerleitung ergangen. In den darauffolgenden sieben Tagen brachten Sondereinheiten der SS etwa 700 Gefangene aus Birkenau und anderen Nebenlagern um. Aber knapp 8000 Inhaftierte, darunter Eva und Miriam, entkamen dem Tod dank dem schnellen Vormarsch der Roten Armee und der Tatsache, daß die SS-Chargen lieber ihre eigene Haut retten wollten, als den Befehl auszuführen.
Kurz darauf schwiegen die Waffen, und am 27. Januar trafen Soldaten der 1. Ukrainischen Front der Roten Armee in Auschwitz ein. Im Arbeitslager Monowitz, direkt neben den Bunawerken der I.% G. Farben, fanden sie 600 Überlebende, in Birkenau knapp 6000 und im Stammlager Auschwitz gut 1000, darunter Eva und Miriam. Als Eva eine der Frauen aus ihrer Baracke rufen hörte: »Wir sind frei! Wir sind frei! Wir sind frei!«, wußte sie, daß ihr Leiden ein Ende hatte. Sie rannte zur Tür, konnte aber im Schnee nichts erkennen. Erst nach einigen Minuten sah sie die Soldaten der Roten Armee, die zur Tarnung weiße Mäntel trugen. »Wir rannten zu ihnen hin, und sie umarmten uns und gaben uns Kekse und Schokolade. Wenn man so einsam ist, bedeutet einem eine Umarmung mehr, als sich irgendjemand vorstellen kann, weil sie die menschliche Wärme ersetzte, nach der wir hungerten. Wir hungerten nicht nur nach Brot, sondern auch nach menschlicher Güte, und die sowjetische Armee stillte dieses Bedürfnis. Auch nach dem Krieg, als wir wieder zu Hause waren, sehnte ich mich immer noch am meisten nach Umarmungen und Küssen. Und deshalb sage ich meinen Schülern immer: ›Wenn du heute nachmittag heimkommst, dann drücke bitte deinen Eltern und gib ihnen einen Extrakuß für all die Kinder, die das Lager überlebt haben und niemanden hatten, der sie umarmte und küßte.‹«
Ivan Martynushkin war Leutnant einer Granatwerfereinheit der Roten Armee, die
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