Auschwitz
sie die Rufe: »Wasser, Mutter! Wasser, Mutter!«
Renee Salt 8 war auch eine Gefangene aus Auschwitz, die man nach Bergen-Belsen verlegt hatte. 1945 war sie 16 Jahre alt. Obwohl sie unterwegs auf der Straße schon unzählige Leichen gesehen hatte, die von früheren Transporten stammten, war sie durch nichts auf den Anblick vorbereitet, der sich ihr im Lager bot: »Wir sahen menschliche Skelette herumlaufen, deren Arme und Beine wie Streichhölzer aussahen, die Knochen stachen aus der Haut hervor. Der Gestank war überwältigend. Nach allem, was wir schon mitgemacht hatten, schien das hier noch viel schlimmer zu sein.«
Die Organisation des Lagers war gänzlich zusammengebrochen. Es gab weder Morgen- noch Abendappelle; die Gefangenen waren viel zu schwach, um aufzustehen, und verhungerten scharenweise. Nach drei Wochen wußte Renee, daß sie sterben würde. Sie erinnert sich noch, daß irgend jemand sie auf einen britischen Panzer aufmerksam machte. Dann verlor sie das Bewußtsein. Als sie nach zehn Tagen wieder zu sich kam, befand sie sich in einer britischen Entlausungseinrichtung. Man hatte sie in einer Desinfektionslösung gebadet, und sie fühlte sich sehr schwach, aber sie war frei.
Am 15. April 1945 hörte Alice Lok Cahana, wie plötzlich jemand rief: »Befreit! Wir sind befreit!« Sie sprang sofort auf und fragte ihr Schwester: »Was heißt Befreiung? Ich muß diese Befreiung finden, bevor sie sich wieder verflüchtigt.« Sie wankte aus der Baracke und sah alliierte Soldaten in Jeeps. Aber ihre Freude war von kurzer Dauer, da Edith kranker war denn je und kurz nach der Ankunft der Briten in ein Rotkreuzkrankenhaus gebracht wurde. Alice wollte bei ihr bleiben, aber die britischen Soldaten ließen es nicht zu, da sie nicht krank genug dafür war. Alice protestierte: »Ich sagte: ›Sie verstehen das nicht. Sie können uns nicht trennen. Ich kann Ihnen helfen. Ich kann die Bettpfanne raustragen.‹« Sie versuchte, die Bettpfanne hochzuheben, aber sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Als sie die Tür erreichte, hob ein Soldat sie hoch, setzte sie in seinen Jeep und brachte zu ihrer Baracke zurück.
Alice, die sich immer um ihre Schwester gekümmert hatte, erst in Auschwitz, dann in Bergen-Belsen, gab sich jedoch nicht so schnell geschlagen. Am nächsten Tag ging sie trotz ihrer Schwäche wieder zum Krankenhaus. Als sie dort ankam, wurde Edith gerade in einen Krankenwagen geschoben. Schnell stieg sie ebenfalls ein und sagte: »Hier bin ich. Ich komme mit dir. Wo auch immer sie dich hinbringen.« Aber derselbe Soldat, der sie am Vortag ins Lager zurückgefahren hatte, erkannte sie und fragte: »Bist du etwa schon wieder da? Du kannst hier nicht bleiben. Wir müssen deine Schwester in ein anderes Krankenhaus bringen, ein Militärkrankenhaus.« Alice mußte wieder aussteigen und mit ansehen, wie der Krankenwagen mit ihrer Schwester davonfuhr.
Damit begann Alice’ Suche nach ihrer Schwester, die ein halbes Jahrhundert andauern sollte. Sie versuchte, sie über das Rote Kreuz ausfindig zu machen. Aber sämtliche Versuche schlugen fehl. Erst 53 Jahre nach dem Verschwinden ihrer Schwester entdeckte sie in den Aufzeichnungen von Bergen-Belsen, daß eine gewisse Edith Schwartz am 2. Juni 1945 gestorben war. Schwartz war der Mädchenname von Alice’ Mutter, den Edith im Lager benutzt hatte, damit man sie nicht als Alice’ Schwester erkannte. Sie hatte gefürchtet, daß die Nationalsozialisten sie trennen würden, wenn sie erfuhren, daß sie Schwestern waren.
Nach 53 Jahren des Hoffens, in denen Alice jedesmal, wenn das Telefon klingelte oder ein Brief eintraf, betete, es möge ihre Schwester sein, nach all dem emotionalen Schmerz, entdeckte sie schließlich, daß ihre Schwester nur noch ein paar Tage gelebt hatte, nachdem sie sie zum letzten Mal gesehen hatte. Alice hatte ihre Schwester während der Deportation aus Ungarn und Auschwitz beschützt, auf dem Todesmarsch und während des Hungers und der Krankheiten in Bergen-Belsen, aber letztlich hatten die Nationalsozialisten sie doch noch umgebracht. »Die Befreiung kam zu spät für Dich, meine geliebte Schwester«, schrieb Alice in einem Gedicht, nachdem sie vom Tod ihrer Schwester erfahren hatte. »Wie konnten sie so etwas tun? Wie? Warum?«
Heinrich Himmler, einer der Hauptverantwortlichen für Ediths Tod, hätte in den ersten Tagen nach dem Beschluß der »Endlösung« keine Probleme gehabt, Alice Lok Cahanas Fragen zu beantworten: Die Juden mußten
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