Auschwitz
sich bis nach Auschwitz vorgekämpft hatte. Als er wenige Stunden nach der Befreiung in Birkenau eintraf, herrschte überall Totenstille. Die ehemaligen Gefangenen sahen ihn »mit Dankbarkeit in den Augen« und einem »gezwungenen Lächeln« an. »Wir hatten das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben«, sagt er, »eine sehr gute Tat. Wir hatten unsere Pflicht erfüllt.« Aber obwohl er und seine Kameraden mit den Gefangenen »Mitleid empfanden«, waren sie nicht besonders beeindruckt von dem, was sie sahen: »Sie müssen die Psychologie von Leuten verstehen, die im Krieg waren … Ich hatte bereits über ein Jahr Kampferfahrung hinter mir und in dieser Zeit verschiedene Lager gesehen – nicht wie dieses, sondern kleinere Gefangenenlager. Ich hatte gesehen, wie Städte und Dörfer zerstört wurden. Ich hatte gesehen, wie unsere eigenen Leute leiden mußten. Ich hatte gesehen, wie kleine Kinder verstümmelt wurden. Es gab kein einziges Dorf, das nicht diese Greuel, diese Tragödie, dieses Leid erlebt hätte.«
Ivan Martynushkins Worte drücken aus, was viele empfanden, die an der Ostfront gekämpft hatten. Auschwitz war für sie im Grunde nur ein weiterer Schauplatz in einem Krieg, der schon zu viele Menschenleben gekostet hatte.
Die Befreiung von Auschwitz machte in der damaligen Zeit keine großen Schlagzeilen. Sie wurde in den Zeitungen erwähnt: Die Prawda veröffentlichte am 2. Februar einen Bericht ihres Korrespondenten Boris Polevoi 3 ; ein paar Tage später erschien der Artikel im Jewish Chronicle in Großbritannien. Aber die Befreiung erfuhr nicht dieselbe Aufmerksamkeit wie die Entdeckung des Lagers Majdanek im vorangegangenen Sommer. Majdanek war das einzige andere Lager, in dem Zyklon B zum Einsatz kam (wenn auch in einem weit geringeren Maß als in Auschwitz), und so sah die Presse Auschwitz zunächst als ein »weiteres Majdanek« an. Im Januar 1945 schienen andere Nachrichten wichtiger, nicht zuletzt das bevorstehende Treffen der »drei großen« Kriegsherren (Churchill, Roosevelt und Stalin) 4 in Jalta auf der Krim. Aber vielleicht gab es noch einen anderen Grund, warum die Befreiung von Auschwitz im Westen nicht journalistisch ausgeschlachtet wurde. Die Rote Armee hatte das Lager entdeckt, was für manche sofort die Frage nach den Überlebenschancen der Allianz, die den Krieg gewonnen hatte, aufwarf. In Polevois Artikel in der Prawda finden sich bereits Ansätze einer marxistischen Interpretation von Auschwitz als Inbegriff einer kapitalistischen Fabrik, die auf der Entfremdung von Arbeit beruhte. Der Artikel markierte den Beginn einer zwischen Ost und West kontrovers geführten Diskussion über die Vorgänge in den Lagern, die erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endete.
Im Januar 1945 empfanden es Eva Mozes Kor und ihre Schwester Miriam zu Recht als Glück, daß die Rote Armee sie befreit hatte. Hätten die Deutschen sie nicht zurückgelassen, sondern gezwungen, zusammen mit den anderen 60 000 sogenannten arbeitsfähigen Gefangenen aus den verschiedenen Lagern Auschwitz’ den langen Marsch nach Westen anzutreten, hätten sie vielleicht nicht überlebt. Diese wenigen Wochen waren für viele, die an der Evakuierung teilnahmen, das schlimmste Erlebnis ihrer gesamten Gefangenschaft, schlimmer als die ständigen Selektionen, schlimmer als der Hunger im Lager, schlimmer als die von Ungeziefer verseuchten, eisigen Baracken, in denen sie hausten. Dieser Exodus sollte zu Recht als »Todesmarsch« in die Annalen eingehen.
Das Konzept eines Todesmarschs war nicht neu. Im Januar 1940 mußten 800 polnische Kriegsgefangene, ausschließlich Juden, die etwa 100 Kilometer von Ludlin nach Biala Podlaska zu Fuß zurücklegen. 5 Nur eine Handvoll überlebte diesen Marsch durch das winterliche Polen; die Mehrzahl erfror oder wurde von SS-Angehörigen, die den Zug begleiteten, erschossen. In den darauffolgenden Jahren, nach der Auflösung der Ghettos, wurden viele Juden von den Nationalsozialisten auf Todesmärsche geschickt; auch die sowjetischen Kriegsgefangenen, die im Westen provisorische Lager errichten mußten, traf dieses Los.
Die Gefangenen wurden aus dem Lager geprügelt, nur mit ihrer dünnen Häftlingskleidung bekleidet, die keinerlei Schutz gegen den Schnee und den eisigen Wind eines polnischen Winters bot, und mußten sich auf der Straße aufstellen. In diesem Augenblick zeigte der SS-Angehörige Franz Wunsch mit einer letzten Geste Helena Citrónová, einer jüdischen Gefangenen, seine Liebe. Als
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