Auschwitz
ausfindig. »Sie waren betrunken, total betrunken«, berichtet Helena. »Sie benahmen sich wie wilde Tiere.« Die Soldaten kamen nachts zu ihnen, »auf der Suche nach hübschen Mädchen, die sie dann vergewaltigten«. Helena versteckte sich unter ihrer Schwester, die zehn Jahre älter war und oft für ihre Mutter gehalten wurde, und hoffte, daß dieser Anblick die Soldaten milde stimmen würde. Der Trick funktionierte. Aber sie hörte alles mit an, was die Soldaten den anderen Frauen antaten: »Ich hörte sie schreien, bis sie keine Kraft mehr hatten und verstummten. Es gab Fälle, in denen Frauen zu Tode vergewaltigt wurden. Sie erwürgten sie einfach. Ich drehte den Kopf weg, weil ich es nicht mit ansehen wollte, weil ich ihnen nicht helfen konnte. Ich hatte Angst, daß sie meine Schwester und mich vergewaltigen würden. Es waren Tiere. Egal, wo wir uns versteckten, sie fanden unsere Verstecke und vergewaltigten meine Freundinnen. Sie taten ihnen schreckliche Dinge an. Bis zum letzten Augenblick dachten wir, wir würden nicht überleben. Wir dachten, wenn wir nicht durch die Deutschen umkommen, dann durch die Russen.«
Helena entkam nur mit knapper Not diesem Schicksal. An einem schönen Frühlingsmorgen schwang sie sich aufs Fahrrad und radelte los. Sie »war ganz begeistert vom Fahrradfahren. Als Kind hat es mir soviel Spaß gemacht; ich habe vor allem die Freiheit und die Stille genossen.« Als sie an einem verlassenen Lagerhaus Rast machte, »kam ein Russe auf einem Motorrad. Er hatte eine junge Frau gesehen, jüdisch oder nicht jüdisch, das spielte keine Rolle. Er warf sein Motorrad hin, und dann begann ein fürchterlicher Kampf. Ich weiß nicht, wie ich es schaffte, von ihm loszukommen, diesem brutalen Schwein. Er hatte lange keinen Sex gehabt, aber es gelang ihm nicht, mich zu vergewaltigen. Ich trat um mich und biß und schrie, und er fragte mich die ganze Zeit, ob ich Deutsche wäre. Ich sagte: ›Nein, ich bin eine Jüdin aus dem Lager‹. Ich zeigte ihm die Nummer auf meinem Arm. Und in diesem Augenblick ließ er von mir ab. Vielleicht war er selbst Jude. Ich weiß es nicht. Er drehte sich um, stand auf und rannte davon.«
Die genaue Zahl von Vergewaltigungen, die von sowjetischen Soldaten während ihres Vormarschs durch Deutschland sowie kurz nach dem Krieg begangen wurden, läßt sich nicht mehr feststellen, aber sie geht bestimmt in die Hunderttausende. Vor kurzem gingen Berichte über die Brutalität russischer Soldaten gegenüber deutschen Frauen in Städten wie Berlin durch die Medien. Aber daß Frauen, die in Lagern wie Auschwitz bereits unsägliches Leid ertragen mußten, anschließend von ihren Befreiern vergewaltigt wurden, war eine Ironie des Schicksals.
Diese Taten erhielten durch die Tatsache, daß es sich bei den Vergewaltigern um ihre eigenen Landsleute handelte, noch einen besonders perfiden Beigeschmack. Stalin hatte behauptet, daß es keine sowjetischen Kriegsgefangenen gab, nur »Vaterlandsverräter«. Daß seine Soldaten diese Einstellung teilten, wurde deutlich, als Einheiten der Roten Armee in dem Konzentrationslager in Südpolen eintrafen, in dem Tatiana Nanieva 13 gefangengehalten wurde. Sie wurde 1942 von den Deutschen aufgegriffen, als diese das Krankenhaus einnahmen, in dem sie als Krankenschwester arbeitete. Während ihrer zweieinhalbjährigen Haft mußte sie mit ansehen, wie andere sowjetische Frauen im Lager von den Deutschen vergewaltigt wurden. Im Januar 1945 dann hörte sie die Soldaten der Roten Armee mit großem Tamtam anrücken; mit hoch erhobenem Kopf sangen sie patriotische Lieder: »Wir waren glücklich, in Hochstimmung. Wir glaubten, daß der Sieg zum Greifen nahe war und wir bald wieder ein normales Leben führen würden. Ich sehnte mich nach meiner Heimat, nach meiner Familie.« Als sie angesichts der Befreiung von Glücksgefühlen durchströmt wurde, kamen zwei Offiziere der Roten Armee auf sie zu. Einer von ihnen war betrunken und rief: »Wie seid ihr denn den Erwartungen gerecht geworden? Ihr Huren!« Für Tatiana brach eine Welt zusammen, während er schwankend vor ihr stand und nach seiner Pistole griff. Sie rannte davon und es gelang ihr, sich zu verstecken, bis die sowjetischen »Befreier« ihren Rausch ausgeschlafen hatten. Aber ob betrunken oder nüchtern geäußert, der Vorwurf blieb derselbe: »Verrat am Vaterland«. Für ihr »Verbrechen«, sich von den Deutschen gefangennehmen zu lassen, wurde sie zu sechs Jahren in einem Gulag und im Anschluß
Weitere Kostenlose Bücher