Auschwitz
Lager Auschwitz I] loslaufen. Sie [die SS-Männer] schrien: ›Schnell laufen! Laufen, laufen, laufen!‹ Und wir liefen. Wer nicht laufen konnte, wurde sofort getötet. Wir hatten das Gefühl, weniger wert zu sein als Hunde. Man hatte uns gesagt, daß wir zur Arbeit, aber nicht in ein Konzentrationslager gehen würden.«
Am nächsten Morgen, nach einer Nacht ohne Essen oder Trinken, mußten Otto Pressburger, sein Vater und die übrigen vom slowakischen Transport aus rund 1000 Menschen vom Stammlager zur Baustelle Birkenau laufen. Unterwegs wurden nach seiner Schätzung 70–80 Menschen getötet. Birkenau, stark verschlammt und verschmutzt, war ein schauderhafter Ort. Perry Broad von der SS erinnerte sich: »Die Bedingungen in Birkenau waren um einiges schlechter als im Hauptlager. Überall war Schlamm. Es gab kaum Wasser zum Waschen.« 36 Die Häftlinge existierten in einer Umgebung äußerster Entwürdigung, bedeckt mit Schmutz und ihrem eigenen Kot.
Kaum in Birkenau angekommen, wurde Otto Pressburger sofort in das brutale Lagerregime eingeführt. Als er sah, wie ein polnischer Junge seinem Vater einen Gürtel stahl, schnappte er sich den Dieb und gab ihm eine Ohrfeige. Ein anderer Häftling machte ihn sofort darauf aufmerksam, daß er einen möglicherweise verhängnisvollen Fehler begangen hatte. Der Junge war ein »Pipel« – im Lagerjargon die Bezeichnung für die »Spieljungs« homosexueller Kapos. »Wir mußten in die Baracken zurücklaufen und uns verstecken«, sagt Otto Pressburger. »Der Kapo des Blocks betrat die Baracke und befahl uns, uns auf den Boden zu legen, das Gesicht zum Mittelgang. Dann kam der ›Pipel‹ und suchte mich. Er erkannte mich nicht. Wir sahen alle gleich aus. Ohne Haare [allen Häftlingen hatte man bei ihrer Ankunft den Kopf kahlgeschoren] und in denselben Kleidern. Ich hatte großes Glück, sonst hätten sie mich umgebracht.«
An diesem ersten Tag der Arbeit in Birkenau wurde Pressburger Zeuge eines weiteren Zwischenfalls, der auf eine noch grausamere Art die verzweifelte Situation, in der er sich nun befand, deutlich machte: »Wir mußten im Straßenbau arbeiten – die Kapos und die SS-Männer hatten die Aufsicht. Es gab einen Juden aus unserer Stadt, ein großer und starker Mann aus einer reichen Familie. Der Kapo sah seine Goldzähne und forderte ihn auf, sie ihm zu geben. Er antwortete, das sei ihm nicht möglich, doch der Kapo bestand darauf, daß er sie ihm geben müsse. Als der Mann immer noch beteuerte, daß ihm dies nicht möglich sei, wurde der Kapo wütend und sagte, wir müßten allen seinen Befehlen Folge leisten. Er nahm seine Schaufel und schlug sie dem Mann mehrfach auf den Kopf, bis dieser zu Boden stürzte. Der Kapo drehte ihn auf den Rücken, setzte ihm die Schaufel auf die Kehle an stellte sich auf das Blatt. Er brach ihm das Genick und brach ihm mit der Schaufel auch die Zähne aus dem Mund. In der Nähe stand ein anderer Jude, der den Kapo fragte, wie er so etwas tun könne. Der Kapo ging auf ihn zu und sagte, das könne er ihm zeigen. Und er brachte ihn auf dieselbe Weise um. Dann sagte er zu uns, wir sollten niemals Fragen stellen und uns um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern. An diesem Abend mußten wir auf dem Rückweg in die Baracken zwölf Tote mitnehmen. Er hatte sie einfach so umgebracht. Das alles geschah am ersten Arbeitstag.«
Das mörderische Verhalten der Kapos war von Anfang an charakteristisch für Auschwitz, so daß die Erlebnisse der Neuankömmlinge für sie zwar schrecklich, für die Verhältnisse im Lager jedoch nicht ungewöhnlich waren. Doch die Kultur dieses Orts (soweit man diesen Begriff im Zusammenhang mit Auschwitz gebrauchen kann) sollte mit der Ankunft der slowakischen Juden zwei wichtige Änderungen erfahren.
Zur ersten Änderung kam es, weil jetzt auch Frauen im Lager interniert wurden; bislang war Auschwitz ein reines Männerlager gewesen. Doch die Ankunft der Frauen hatte nicht die geringste »zivilisierende« Wirkung auf die Lagerführung – eher im Gegenteil, wie Silvia Veselá bezeugte. Sie kam kurz nach Otto Pressburger nach Auschwitz, mit einem Transport aus mehreren hundert Frauen und einem einzigen Mann – ein jüdischer Arzt, dem die slowakischen Behörden gestattet hatten, die Frauen zu begleiten. »Als wir nach Auschwitz kamen, wurden wir mit Füßen aus den Güterwaggons getreten«, sagt Silvia Veselá, »und die SS-Männer brüllten auf einmal unseren Arzt an, um herauszufinden, warum er der einzige
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