Auschwitz
ich leben wollte«, sagt er, »desto eher mußte ich vergessen.«
Indem er sich diese eiserne Selbstdisziplin auferlegte, vor allem in der Bewältigung furchtbarer Qualen durch Hunger und Durst, kam ihm unerwartet die Erinnerung daran zu Hilfe, wie er sich in seiner Kindheit verhalten hatte: »Als ich ein Schulkind war, gaben meine Eltern mir Geld mit, damit ich mir auf dem Weg zur Schule belegte Brote kaufen konnte, aber das habe ich nie gemacht. Statt dessen kaufte ich mir immer Lakritze. Somit hatte ich den ganzen Tag nichts zu essen außer der Lakritze, bis ich nachmittags nach Hause kam.« Während andere Häftlinge in Birkenau »wahnsinnig vor Hunger« wurden, kam er damit zurecht: »Ich war daran gewöhnt, nicht viel zu essen. Das ist bis heute so geblieben.«
Otto Pressburger ist nicht der einzige, der davon überzeugt ist, daß eine frühere Gewöhnung an Entbehrungen wesentlich dazu beigetragen hat, in Auschwitz zu überleben. Wie Jacob Zylberstein im Hinblick auf das Ghetto Łódz gesagt hat, war es für viele der dorthin deportieren deutschen Juden wegen ihrer gutbürgerlichen Herkunft schwierig, sich an das Ghettoleben zu gewöhnen, während er und seine Angehörigen, die in eher ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen waren, weitaus weniger Probleme hatten, sich darauf einzustellen. Silvia Veselá beobachtete ein ähnliches Phänomen bei den slowakischen Jüdinnen aus dem gehobenen Bürgertum. Selbst in den Zwischenlagern in der Slowakei, in denen die Verhältnisse weniger schlimm waren als in Auschwitz, war es für diese Menschen weitaus schwieriger als für Frauen aus weniger gut gestellten Familien. Und Pawel Stenkin stellte fest, daß ihm als sowjetischem Kriegsgefangenen in Auschwitz seine harte Kindheit zum Vorteil gereichte. Als Kind hatte er nie viel zu essen gehabt – und jetzt kam ihm dieser Mangel zugute.
Diese Form einer »Selektion« innerhalb der Ghettos und Lager war natürlich genau die Frage, die Heydrich auf der Wannseekonferenz angeschnitten hatte. Die Nationalsozialisten und zumal die SS waren zu sehr auf Darwin und sein Prinzip des Überlebens der Tauglichsten eingeschworen, als daß sie den Juden, die den Schrecken der Lagerhaft getrotzt hatten, das Weiterleben erlaubt hätten. Die Nationalsozialisten konnten sogar aus ihrer Rassentheorie die Lehre ziehen, daß sie jetzt genau die Gruppe ausgesondert hatten, die sie am meisten hätten fürchten müssen. Dieses selbstzerstörerische Beharren darauf, der eigenen verqueren Logik bis zum bitteren Ende zu folgen, ist einer der Faktoren, der die »Endlösung der Judenfrage« durch die Nationalsozialisten von anderen Völkermorden wie etwa Stalins mörderischer Behandlung kleinerer Nationalitäten innerhalb der Sowjetunion unterscheidet. Stalin mochte ganze Nationen verfolgt haben, aber das Sowjetsystem strebte nicht danach, sie in ihrer Totalität zu vernichten.
Als Otto Pressburger vor kurzem nach Birkenau zurückkehrte, um die Grabstätten zu besuchen, erinnerte er sich an die Tausende von Juden, die zusammen mit ihm aus der Slowakei nach Auschwitz verbracht wurden und keine solche Reise mehr machen konnten: »Es ist furchtbar. Ich kann mich erinnern, wie ich [hier] neben meinem Vater stand. Die Mehrzahl der Menschen, die hier gearbeitet haben, stammten aus meiner Stadt. Ich habe sie alle gekannt. Von Tag zu Tag wurden es immer weniger. Sie müssen noch immer hier in der Nähe begraben liegen. Ganze vier von uns haben die drei Jahre überlebt.«
Im Frühjahr und Frühsommer 1942 gingen Tausende von Juden, hauptsächlich aus Oberschlesien und der Slowakei, in Bunker 1 und Bunker 2 in den Tod. Auf dem Weg zu den Gaskammern plauderten SS-Führer wie Gerhard Palitzsch mit den Juden, fragten sie, welchen Beruf sie ausübten oder was sie gelernt hatten. Rudolf Höß betonte in seinen Aufzeichnungen, es sei vor allen Dingen wichtig gewesen, »daß bei dem ganzen Vorgang des Ankommens und Entkleidens möglichst größte Ruhe herrschte.« Es konnte jedoch vorkommen, wie Höß anmerkte, »daß einige doch stutzig wurden und von Ersticken, von Vernichten sprachen. Es entstand dann sofort eine Art Panik.« In solchen Fällen wurden die noch draußen Stehenden so schnell wie möglich in die Gaskammern hineingetrieben und die Türen verschlossen. »Bei den nächsten Transporten«, schrieb Höß weiter, »wurde von vornherein nach den unruhigen Geistern gefahndet und diese nicht aus den Augen gelassen. Machte sich Unruhe bemerkbar, so wurden die
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