Auschwitz
Vergeltung«.
Trotz dieser partiellen Lösung seines Problems war Stülpnagel noch immer der Meinung, er müsse einen erneuten Protest bei seinen Vorgesetzten einlegen, und schrieb im Januar 1942 »Massenerschießungen kann ich … nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren, noch vor der Geschichte verantworten«. 3 Es war nur konsequent, daß Stülpnagel bald darauf seinen Posten verließ, doch das von ihm eingeführte Prinzip blieb erhalten. Juden und Kommunisten wurden im Rahmen einer Reihe von Repressalien gegen jegliche französische Widerstandshandlungen »zur Zwangsarbeit in den Osten« deportiert. Der erste dieser Transporte verließ Frankreich im März 1942 mit dem Ziel Auschwitz. Deutsche Wehrmachtsoffiziere, geleitet von dem Wunsch, sich für die Geiselerschießungen nicht eines Tages »vor den Schranken der Geschichte« verantworten zu müssen, hatten diese Menschen gleichwohl der denkbar höchsten Gefahr ausgesetzt. Sie kamen durch Unterernährung, Mißhandlungen und Krankheit um. Von den 1112 Menschen, die in Compiègne den Zug bestiegen, waren fünf Monate später 1008 nicht mehr am Leben. 4 Man nimmt an, daß lediglich 20 von ihnen den Krieg überlebt haben. Demnach starben mehr als 98 Prozent dieses ersten Transports in Auschwitz.
Zu diesem Zeitpunkt fügte sich die Deportation von Juden aus Frankreich zugleich nahtlos in eine weitere, wesentlich umfassendere Vision des Nationalsozialismus ein – die »Endlösung der Judenfrage«. Am 6. Mai besuchte Heydrich persönlich Paris und enthüllte in kleinem Kreis: »Wie über die russischen Juden in Kiew, ist auch über die Gesamtheit der europäischen Juden das Todesurteil gesprochen. Auch über die französischen Juden, deren Deportation in diesen Wochen beginnt.« 5 Die Verantwortung für die praktische Durchführung dieses Programms in Frankreich fiel Theodor Dannecker zu, dessen Vorgesetzter Adolf Eichmann unmittelbar Reinhard Heydrich unterstellt war.
Bei ihrem Bemühen, ein »judenfreies« Frankreich zu schaffen, stießen die deutschen Machthaber auf ein massives Hindernis – die französischen Behörden. Es gab einfach kein ausreichendes deutsches Personal in Frankreich, um die dort lebenden Juden zu registrieren, zusammenzutreiben und zu deportieren; dazu benötigte man die aktive Beteiligung der französischen Verwaltung und Polizei, zumal die Besatzer anfangs verlangten, aus Frankreich müßten mehr Juden deportiert werden als aus jedem anderen Land in Westeuropa. Bei einer Besprechung in Berlin am 11. Juni 1942 unter dem Vorsitz Adolf Eichmanns wurde ein Deportationsplan bekanntgegeben, dem zufolge 10 000 belgische, 15 000 holländische und 100 000 französische Juden nach Auschwitz deportiert werden sollten. Sie mußten zwischen 16 und 40 Jahre alt sein, und der Anteil der »Arbeitsunfähigen« durfte höchstens zehn Prozent betragen. Welche Überlegungen hinter diesen Zahlen und Einschränkungen standen, ist bis heute unklar, doch ist zu vermuten, daß der vorläufige Ausschluß von Kindern und alten Menschen mit der zu diesem Zeitpunkt noch beschränkten Vernichtungskapazität des Lagers Auschwitz zusammenhing. Der stets pflichteifrige Theodor Dannecker sagte zu, alle französischen Juden zu deportieren, die in die vorgegebene Kategorie fielen. Kurz nach dieser Zusammenkunft erstellte Dannecker einen Plan, innerhalb von drei Monaten 40 000 Juden aus Frankreich in den Osten zu schicken.
Es war eine Sache, ein solch ehrgeiziges Versprechen abzugeben, aber eine ganz andere, die Voraussetzungen dafür in einem Land zu schaffen, das sich noch immer weitgehend selbst verwaltete. Bei einer Unterredung am 2. Juli zwischen dem Polizeichef der Vichy-Regierung, René Bousquet, und Vertretern der Besatzungsmacht bekamen die Deutschen den Unterschied zwischen Theorie und Praxis unmittelbar zu spüren. Bousquet trug die Position seiner Regierung vor – in der besetzten Zone könnten nur ausländische Juden deportiert werden, und in der nichtbesetzten Zone werde die Polizei sich an keinen Massenverhaftungen beteiligen. Wörtlich erklärte er: »Auf französischer Seite haben wir nichts gegen die Verhaftungen als solche. Lediglich ihre Durchführung durch französische Polizei würde uns in Verlegenheit bringen. Dies war der persönliche Wunsch des Marschalls [Pétain].« 6 Helmut Knochen, der Leiter der Dienststelle Paris der Sicherheitspolizei und des SD, dem klar war, daß sich die Deportationen ohne die Mitarbeit der Franzosen unmöglich
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