Auschwitz
Franzosen und Deutschen. Der deutsche Militärbefehlshaber, Otto von Stülpnagel, operierte vom Hotel Majestic in Paris aus eher wie ein römischer Statthalter an der Spitze einer halbautonomen Provinz des Reichs und weniger wie ein Nationalsozialist, der alles daransetzte, das von ihm beherrschte Volk zu einer Nation von Sklaven zu machen. Dennoch befanden sich die Juden in Frankreich nicht in Sicherheit. 1940 betrug ihre Zahl rund 350 000, und fast die Hälfte von ihnen hatte keinen französischen Paß. Viele waren in den zwanziger Jahren aus Osteuropa hierhergekommen, während andere erst in jüngerer Zeit nach Frankreich geflohen waren . Ende September gab der deutsche Verwaltungsstab eine »Ersten Judenverordnung« bekannt. Danach durften 1. die Juden im unbesetzten Gebiet dieses nicht mehr verlassen; 2. mußte von französischer Seite ein Judenregister erstellt werden, um alle Juden aus dem besetzten Gebiet entfernen zu können; 3. mußte der jüdische Besitz erfaßt werden.
Während der Durchführung dieser Verordnung kollaborierte die Vichy-Regierung aufs engste mit den Deutschen. Doch die relative Ruhe der Besatzung sollte im Sommer 1941 durch Ereignisse gestört werden, die sich Tausende von Kilometern im Osten abspielten – der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Am 21. August 1941 wurden in Paris Schüsse auf zwei Deutsche abgegeben – einer wurde getötet, der zweite schwer verletzt. Es stellte sich schnell heraus, daß französische Kommunisten hinter dem Anschlag steckten. Ein weiterer Mordanschlag am 3. September verstärkte die Befürchtung der Deutschen, daß ihr bislang ungestörtes Leben in Frankreich beendet sein könnte.
Die deutschen Besatzungsbehörden reagierten auf die Morde mit der Verhaftung von Kommunisten und Erschießungen als Repressalien – unmittelbar nach dem Zwischenfall im September wurden drei Geiseln erschossen. Doch diese Antwort wurde von Hitler für unangemessen milde erachtet, der sich zu dieser Zeit in seinem Hauptquartier in den ostpreußischen Wäldern befand und den blutigen Krieg im Osten lenkte. Feldmarschall Wilhelm Keitel leitete Hitlers Unzufriedenheit nach Paris weiter: »Die Vergeltungsmaßnahme an den drei Kommunisten-Geiseln ist viel zu milde! Ein deutscher Soldat sei [so Hitler] viel mehr wert als drei französische Kommunisten. Der Führer erwartet, daß in solchen Fällen mit den schärfsten Vergeltungsmaßnahmen geantwortet werde … Beim nächsten Mordanschlag seien mindestens 100 Erschießungen sofort vorzunehmen für einen [getöteten] Deutschen. Ohne solche drakonischen Vergeltungen werde man der Dinge nicht Herr.« 1
Die deutschen Militärbehörden steckten in einem Dilemma. Wenn sie die von Hitler empfohlene Politik verfolgten, liefen sie Gefahr, die Kooperationsbereitschaft der französischen Bevölkerung zu verlieren – eine Vermutung, die sich anscheinend bestätigte, als es einen Aufschrei der Empörung gab, nachdem die Deutschen zur Vergeltung für die Ermordung eines deutschen Offiziers in Nantes 98 Geiseln erschossen hatten. Für General von Stülpnagel stand außer Frage, daß solche »polnischen Methoden« in Frankreich einfach nicht funktionierten. 2 Doch er war politischer Realist genug, um zu begreifen, daß Hitler seine Meinung nicht einfach ändern und seinem Mann in Frankreich erlauben würde, in einer solchen Lage behutsam vorzugehen. Der Führer war entschlossen. Nur »drakonische Vergeltung« kam in Betracht. Somit versuchten die deutschen Militärbehörden in Frankreich in einem typischen Beispiel für die Art und Weise, wie hohe Funktionsträger im NS-Staat die Lösung von Problemen angingen, Hitlers dogmatische Auffassung zu umgehen, indem sie andere Formen einer »drakonischen Vergeltung« entwickelten, mit denen sie ihr Verhältnis zu den französischen Behörden weit weniger beschädigen würden. Zwei solcher Alternativen wurden sogleich vorgeschlagen: Geldbußen für bestimmte Teile der Bevölkerung und Deportationen. Und da die angebliche »Verbindung« zwischen Kommunisten und Juden für jeden Nationalsozialisten ein Glaubensartikel war, lag für die militärische Führung in Paris nichts näher als der Gedanke, zur Vergeltung für die Ermordung von Deutschen Juden und Kommunisten mit Geldbußen zu belegen und zu deportieren. Die Erschießungen von Geiseln nach Attentaten würden weitergehen, aber in geringerem Umfang und nur als ein kleiner Bestandteil der generellen Politik einer »drakonischen
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