Auschwitz
ausgebessert.
Hätte sich der Vorfall nicht in Auschwitz ereignet, dann wäre Tadeusz Rybackis Erinnerung an seinen Kumpel, dessen Beine hilflos von der Decke herabbaumelten, einfach nur komisch gewesen, und die Geschichte, wie er und seine Kameraden einer Bestrafung entgingen, indem sie einen jungen SS-Mann bestachen, hätte an die Streiche deutscher Kriegsgefangener in den alliierten Gefangenenlagern erinnern können, wie wir sie aus Hollywoodfilmen kennen, in denen das Leben in diesen Lagern im Westen romantisierend verklärt wird. Da sie sich jedoch in Auschwitz abgespielt hat, erweckt die Geschichte keine derartigen Assoziationen. Sie ist vielmehr ein weiteres Indiz dafür, daß Auschwitz sich 1942 in zwei verschiedene Lager aufgespalten hatte – nicht nur geographisch. In dem einen taten Häftlinge wie Tadeusz Rybacki alles, um zu überleben, indem sie die besten Arbeitsplätze im Lager ergatterten und zusätzliche Lebensmittel »organisierten«; in dem anderen wurden Männer, Frauen und Kinder innerhalb weniger Stunden nach ihrer Ankunft umgebracht.
Für Höß war in diesem Sommer klar, daß er seine ganze Aufmerksamkeit und Energie auf dieses zweite Lager und seinen Mordapparat richten mußte. Die Gaskammern in den beiden umgebauten Bauernhäuschen und das Verbrennen der Leichen im Freien stellten nur provisorische Lösungen der mörderischen Aufgabe dar, die sich die SS selbst gestellt hatte, und die Methode der Massenmorde in Auschwitz blieb ineffizient und improvisiert. Als Zentrum des Völkermords steckte Auschwitz noch in den Anfängen, seine Kapazität war stark eingeschränkt. Im Gegensatz zu dem, was Höß und seine Spießgesellen nach dem Krieg aussagen sollten, hatten sie bereits aus eigenem Antrieb vorläufige Methoden entwickelt, Juden und andere in großer Zahl zu ermorden. Doch die größte Aufgabe, deren Verwirklichung ihren traurigen Ruhm begründen sollte, lag noch vor ihnen: die Errichtung einer Todesfabrik.
3. Todesfabriken
Anfang 1942 gab es im gesamten von der deutschen Wehrmacht besetzten Europa nur ein einziges spezialisiertes Todeslager in Betrieb, das Lager Chełmno (Kulmhof). Gleichwohl hielten die Nationalsozialisten an ihrem Programm einer Vernichtung der europäischen Juden fest. Denn im Unterschied zu weniger radikalen Systemen, die zunächst alles sorgfältig planen und dann erst handeln, begannen sie mit den Deportationen der Juden, noch bevor auch nur ein einziges der von ihnen ersonnenen Systeme zu deren Vernichtung erprobt worden oder auch nur fertiggestellt war. Auf dem Fundament der Unordnung, die sich daraus entwickelte, errichteten sie die Apparatur des Völkermords. Und die Geschichte, wie sie diese mörderische Aufgabe organisierten.
Auschwitz sollte bei den Massenmorden 1942 noch nicht die wichtigste Rolle spielen, doch es sollte das Jahr werden, in dem sich die Existenz des Lagers zum ersten Mal auf Westeuropa auswirken sollte. Nur wenige Tage, nachdem die slowakischen Behörden mit den Deutschen vereinbart hatten, ihre Juden nach Auschwitz zu deportieren, schickte ein weiteres europäisches Land den ersten Judentransport dorthin. Und die Umstände, die zu diesem und den folgenden Transporten führten, waren noch komplizierter und unerwarteter als die Ereignisse in der Slowakei, nicht zuletzt, weil der Zug, der am 23. März abgefahren war, aus einem von den Deutschen eroberten Land kam, dem die Besatzer einen großen Spielraum in seiner Verwaltung gelassen hatten: Frankreich.
Nach der schnellen Niederlage im Juni 1940 wurde Frankreich in eine besetzte und eine freie Zone geteilt. Marschall Pétain, ein Held des Ersten Weltkriegs, wurde Staatsoberhaupt und hatte seinen Regierungssitz in Vichy in der nicht besetzten Zone. Er war eine populäre Persönlichkeit in diesen frühen Jahren des Kriegs (wesentlich populärer, als viele Franzosen nach dem Krieg zugeben wollten), und auf ihn richteten sich die Erwartungen aller Franzosen, er werde die Würde Frankreichs wiederherstellen. Die Deutschen dagegen hatten anscheinend widersprüchliche Ziele – sie wollten die Kontrolle über Frankreich und gleichzeitig eine möglichst geringe Militärpräsenz in diesem Land; alles in allem hatten sie nicht mehr als 1500 Offiziere und Verwaltungsfachleute zurückgelassen. Die deutsche Herrschaft war in hohem Maße auf die Kooperation der französischen Beamten und ihre Verwaltungssysteme angewiesen.
Im Verlauf des ersten Jahrs der Besatzung gab es kaum Konflikte zwischen
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