Auschwitz
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Annette Muller wurde krank von dem Gestank und wurde auf den Platz im Innern der Rennbahn getragen, wo sie sich hinlegen konnte. »Ich sah einen Mann, der nicht weit von der Rue de l’Avenir wohnte und der gelähmt war. Und wenn wir in sein Haus kamen, hatte er immer eine Decke über den Beinen, und die Kinder dieses Mannes saßen um ihn herum und sprachen mit ihm voller Respekt. Ich erinnere mich daran, daß ich diesen Mann, der mich beeindruckt hatte, dort gesehen habe. Jetzt lag er auf der Erde, nackt – übrigens war es das erste Mal, daß ich einen Mann nackt gesehen hatte –, und er schrie. Seine Augen waren halb geöffnet, und sein Körper war weiß und nackt. Es war ein angsteinflößendes Bild.«
Nach fünf Tagen in der Rennbahn wurden die Familien mit dem Zug in verschiedene Lager auf dem Land gebracht, die Mullers kamen nach Beaune-la-Rolande. »Es ist ein hübsches Dorf«, sagt Michel Muller. »Es war sehr schön und heiß. Es gab eine große Allee, und wir gingen durch das halbe Dorf, und die Menschen sahen uns an – voller Neugier.« Die Mullers waren unter den letzten, die in dem in aller Eile angelegten Lager ankamen, und es gab keine Betten für sie, auf denen sie hätten schlafen können, so daß sie sich mit einem Strohlager auf dem Boden begnügen mußten. Dennoch hatte Michel Muller keine Angst: »Am Anfang machte ich mir keine Sorgen. Ich war nicht besorgt, weil wir bei unserer Mutter waren, und das beruhigte mich. Und ich spielte mit meinen Freunden.« Ihn beschäftigte nur eines: »Wir waren alle gute Schüler, und wir fragten uns – fahren wir früh genug wieder von hier weg, daß wir rechtzeitig wieder in der Schule sind?«
Trotz der schlimmen Zustände in diesem Lager war es für Annette und Michel der größte Trost, bei ihrer Mutter zu sein. »Zu Hause war sie so bekümmert«, sagt Annette, »daß wir nicht mehr wirklich mit ihr sprechen konnten. Im Lager wurde sie anfangs wieder sehr zugänglich. Sie spielte mit uns, wir hängten uns wie die Kletten an sie. Die anderen Frauen schauten uns zu und lachten, wenn sie sahen, wie sie mit uns herumbalgte.« Doch eine Erinnerung an diese frühen Tage im Lager mit ihrer Mutter verfolgte Annette heute noch: »In der ersten Nacht, die wir in den Baracken verbrachten, muß es geregnet haben, und Wasser tropfte auf sie herunter, und mein Bruder und ich überlegten miteinander, daß wir nicht neben ihr schlafen wollten, weil wir dann auch naß würden. Sie sagte etwas Ähnliches wie: ›Eure Angst vor dem Wasser ist größer als euer Wunsch, neben eurer Mami zu schlafen.‹ Und als wir getrennt dalagen, quälte mich das. Ich hatte die Möglichkeit nicht genutzt, in ihrer Nähe zu sein, wenn wir schliefen.« Einige Tage später gelang es der Mutter, einen Gendarm zu bestechen (im Lager sahen sie nur französische Amtspersonen), einen Brief an ihren Mann aufzugeben, ein Schritt, der das Leben ihrer beiden jüngsten Kinder retten sollte.
Bereits nach wenigen Tagen im Lager wurden die Frauen aufgefordert, ihre Wertsachen abzugeben. Doch einige von ihnen zogen es vor, sich von ihren wertvollsten Besitztümern in einer Weise zu trennen, daß ihre Häscher nichts davon hatten. »In der Latrine war ein Graben«, sagt Michel Muller, »ein Graben mit einer Art Holzdiele darüber, und jeder konnte uns sehen, wenn wir auf die Toilette gingen. Das schüchterte mich ein. Es war uns peinlich, auf die Toilette zu gehen, wenn alle uns sehen konnten. Und es gab einige, die tatsächlich ihren Schmuck in die Scheiße warfen.« Später sah Michel einige Dorfbewohner, die man ins Lager geholt hatte, damit sie die Habseligkeiten der Frauen durchsuchten, wie sie mit Stöcken in der stinkenden Brühe herumstocherten. »Das hat mich wirklich verblüfft«, sagt er.
Da die deutsche Verwaltung von den Franzosen verlangt hatte, nur erwachsene und arbeitsfähige Juden für die Deportationen zu bestimmen, und die Kinder erst nachträglich dazugenommen worden waren, um die Quote zu erfüllen, hatte man in Berlin noch keine formelle Entscheidung darüber getroffen, die Familien komplett zu deportieren. Doch obwohl die französischen Behörden wußten, daß diese Beschlüsse höchstwahrscheinlich in den kommenden Wochen gefaßt würden, erklärten sie sich einverstanden, die Eltern von den Kindern zu trennen und zuerst die Erwachsenen zu deportieren. Jean Leguay, der Vertreter der Vichy-Polizei, schrieb an den Präfekten von Orléans: »Die Kinder dürfen nicht in
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