Auschwitz
Erwachsenentransporten. Sie sollten also in Begleitung von Menschen, die ihnen völlig fremd waren, in den Tod gehen.
Am 15. August machte eine Kolonne von Kindern ihren Weg zurück auf den baumbestandenen Straßen des hübschen Dörfchens Beaune-la-Rolande zum Bahnhof. Sie sahen ziemlich anders aus als die vergleichsweise gesunden und ordentlich angezogenen Jungen und Mädchen, die erst zwei Wochen zuvor gemeinsam mit ihren Müttern das Lager bezogen hatten. »Ich werde nie vergessen, wie die Dorfbewohner uns angesehen haben«, sagt Annette Muller. »Sie sahen uns mit dem gleichen Abscheu an, den ich selbst empfunden hatte. Wir mußten entsetzlich gerochen haben. Unsere Köpfe waren kahlgeschoren und unsere Körper mit Hautabschürfungen überzogen. Und ich sah den angewiderten Blick von Menschen, wenn sie auf uns blickten, so wie man gelegentlich in der Metro guckt, wenn man einen Obdachlosen sieht, der ungewaschen ist und auf einer Bank schläft. Es schien so, als wären wir keine menschlichen Wesen mehr.« Dennoch sangen die Kinder auf dem Weg zum Bahnhof, weil sie fest daran glaubten, wie Annette sagt, »daß wir unsere Eltern wiedersehen würden«. Doch sie waren nicht auf dem Weg nach Hause, sondern nach Drancy, dem Durchgangslager, über das schließlich mehr als 65 000 Menschen in die Todeslager im Osten geschickt wurden, der weitaus größte Teil von ihnen nach Auschwitz.
Odette Daltroff-Baticle, die im August 1942 in Drancy interniert war, hatte es zusammen mit zwei Freundinnen freiwillig übernommen, sich der Kinder aus Beaune-la-Rolande und Pithiviers anzunehmen. 15 »Als sie ankamen, waren sie in einer jämmerlichen Verfassung. Die Kinder wurden von Insekten umschwirrt, sie waren entsetzlich schmutzig und hatten Durchfall. Wir versuchten, sie abzuduschen, aber wir hatten nichts, womit wir sie hätten abtrocknen können. Dann versuchten wir, ihnen Nahrung einzuflößen – diese Kinder hatten seit Tagen nichts gegessen –, was uns große Mühe gekostet hat. Außerdem versuchten wir, eine vollständige Liste mit ihren Namen zu erstellen, doch viele von ihnen wußten ihren Nachnamen nicht und sagten einfach nur so etwas wie ›ich bin der kleine Bruder von Pierre‹. Also bemühten wir uns, ihre Namen herauszubekommen; bei den älteren ging das natürlich, aber bei den jüngeren war es absolut unmöglich. Ihre Mütter hatten ihnen kleine Holzstückchen, auf denen ihr Name stand, an einer Schnur umgehängt, doch viele von ihnen hatten es abgenommen, um untereinander damit zu spielen.«
Odette und die anderen Helferinnen gelangten bei dem erbarmungswürdigen Anblick der Kinder zu dem Schluß, daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als zu versuchen, die Kinder mit Worten zu trösten, von denen sie wußten, daß sie nicht der Wahrheit entsprachen. »Wir haben sie angelogen. Wir haben ihnen gesagt: ›Ihr werdet eure Eltern wiedersehen.‹ Und sie haben uns natürlich nicht geglaubt – eigenartigerweise hatten sie eine Witterung dafür, was passieren würde. Viele von ihnen sagten zu meinen Freundinnen oder zu mir, ›Madame, adoptieren Sie mich … adoptieren Sie mich‹, weil sie im Lager bleiben wollten, auch wenn sie es dort schlecht hatten. Sie wollten nicht mehr woanders hingehen. Es gab da einen kleinen Jungen, ein sehr hübsch aussehender kleiner Junge, der dreieinhalb Jahre alt war. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er immer wieder sagte, ›Mami, ich kriege Angst, Mami, ich kriege Angst‹. Es war alles, was er sagte. Seltsamerweise wußte er, daß er noch mehr Angst kriegen würde. Sie waren ohne alle Illusionen. Sie wollten lieber die Schrecken des Lagers ertragen. Sie verstanden wesentlich besser als wir, was los war.«
Odette sah, daß die Kinder noch »einige kleine Gegenstände [besaßen], die ihnen sehr wichtig waren«, etwa Fotos ihrer Eltern oder kleine Schmuckstücke. »Da war ein kleines Mädchen, das Ohrringe hatte und sagte: ›Glauben Sie, daß sie mich so kleine Sachen aus Gold behalten lassen?‹« Doch einen Tag, bevor die Kinder abgeholt wurden, kamen Jüdinnen aus einem anderen Teil des Lagers, um die Kinder nach Wertsachen zu durchsuchen. »Diese Frauen wurden tageweise bezahlt, und wir wußten, daß sie etwa die Hälfte von dem, was sie fanden, in die eigene Tasche steckten. Und ich sah, daß sie überhaupt nicht nett zu ihnen waren. Sie hatten überhaupt kein Gespür dafür, wie sie die Kinder behandelten, und das fand ich schon seltsam.«
Michel und Annette Muller
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