Auschwitz
empfanden das Leben in Drancy, einem Lager, das in in einer ehemaligen Gendarmeriekaserne eingerichtet worden war als Alptraum. Annette war nicht nur über die Lebensbedingungen entsetzt – sie und ihr Bruder schliefen auf dem Betonboden inmitten von Exkrementen –, sondern auch über die Tatsache, daß die wenigen Erwachsenen, die bereit waren, sich um die Kinder zu kümmern, angesichts ihrer großen Zahl kapitulieren mußten: »Niemand kümmerte sich um uns. Wir waren buchstäblich uns selbst überlassen. Ich kann mich nicht erinnern, daß ein Erwachsener sich um uns gekümmert hätte.« Dann, kurz bevor die Transporte nach Auschwitz abgehen sollten, hörte sie, wie ihr Name und der ihres Bruders von einer Liste aufgerufen wurden. Sie und Michel wurden aus dem mit Stacheldraht eingezäunten Lager hinaus zu einem Polizeiwagen begleitet, der sie erwartete. »Wir dachten, wir würden befreit werden«, sagt Annette. »Wir waren der festen Meinung, daß wir unsere Familie wiedersehen und in die Rue de l’Avenir zurückkehren würden. Und Michel und ich unterhielten uns über einen Plan, wie wir unsere Eltern überraschen würden – wir wollten uns unter dem Tisch verstecken und dann darunter hervorkommen, so daß sie glücklich wären, uns wiederzuhaben. Und an dieser Stelle drehte ich mich um und sah, wie die Polizeibeamten hinter uns Tränen in den Augen hatten, weil sie genau wußten, daß wir nicht nach Hause gebracht werden sollten.«
Annette und Michel kamen in ein anderes Sammellager für ausländische Juden in einem Haus unweit von Drancy – eine ehemalige Pflegeanstalt an der Rue Lamarck auf dem Montmartre. Sie wußten es zwar noch nicht, doch das war der erste Schritt zu ihrer Befreiung. Ihr Vater hatte den Brief erhalten, den seine Frau ihm von Beaune-la-Rolande aus geschrieben hatte. Daraufhin hatte er mehrere Bestechungsgelder bezahlt, zuerst an einen einflußreichen französischen Juden und über ihn an die französischen Behörden. Das bedeutete, daß Annette und Michel trotz ihres jungen Alters als »Pelznäher« eingestuft und aus Drancy abgeholt wurden. Nachdem sie in dem neuen Lager angekommen waren, sorgte ihr Vater dafür, daß sie von Vertretern eines katholischen Waisenhauses abgeholt wurden, wo man sie während des Krieges versteckt hielt.
Die allermeisten jüdischen Kinder, die im Sommer 1942 nach Drancy verbracht wurden, hatten nicht soviel Glück. Zwischen dem 17. und dem 31. August gingen sieben Deportationszüge vom Lager nach Auschwitz ab, in denen die Kinder mitfuhren, die man in Beaune-la-Rolande und Pithiviers von ihren Eltern getrennt hatte. »An dem Morgen vor ihrem Abtransport zogen wir die Kinder so gut an, wie wir konnten«, sagt Odette Daltroff-Baticle. »Die meisten von ihnen konnten nicht einmal ihren kleinen Koffer tragen. Und ihre Koffer waren durcheinandergeraten, wir wußten nicht, was wem gehörte. Sie wollten nicht die Treppe hinunter zum Bus gehen, und wir mußten sie an die Hand nehmen. Nachdem man Tausende von ihnen abgeholt hatte, waren meiner Erinnerung nach vielleicht 80 in der Krankenstation zurückgeblieben, von denen wir hofften, daß wir sie retten könnten – aber kein Gedanke. Eines Tages hat man uns gesagt, daß auch diese 80 abgeholt würden. Und als wir versuchten, sie am Morgen der Deportation die Treppe hinunterzubringen, schrien sie und traten um sich. Sie wollten um keinen Preis hinuntergehen. Die Gendarmen kamen die Treppe hoch und brachten sie schließlich unter großen Schwierigkeiten dazu, daß sie gingen. Einer oder zwei von ihnen schienen etwas traurig über dieses entsetzliche Schauspiel zu sein, das sie mit ansehen mußten.«
Jo Nisenman, damals 18 Jahre alt, verließ Drancy am 26. August in einem dieser Transporte. In dem Zug befanden sich 700 Erwachsene und 400 Kinder, unter ihnen seine zehnjährige Schwester, die »blond und sehr hübsch« war. 16 Unter den etwa 90 Personen in seinem Waggon waren rund 30 Kinder, die ohne ihre Eltern deportiert wurden. Jo erinnert sich, wie »stoisch« die Kinder die lange Fahrt in dem Güterzug nach Auschwitz aushielten. »Nach zwei oder drei Tagen – ich weiß nicht mehr genau, wie lange wir fuhren – kamen wir an der letzten Station vor Auschwitz an. Und sie brauchten ein paar Männer in guter körperlicher Verfassung, da es in der Nähe ein Arbeitslager gab. Also hielten sie den Zug an und holten 250 Männer heraus.« Jo war einer von ihnen. »Sie trieben uns mit Stöcken ins Freie. Sie ließen
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