Auschwitz
rupften Gras aus, das wir zu essen versuchten«.
Mit seinen sieben Jahren übernahm Michel die Rolle eines Beschützers seiner Schwester. Doch er stand vor enormen Schwierigkeiten. Annette war krank und konnte nicht nach Suppe anstehen, und der Versuch, Gras zu essen – Michel glaubte, es werde so ähnlich wie Salatblätter schmekken –, führte natürlich zu nichts. Sein größtes Problem war jedoch, daß er jünger und kleiner war als die meisten anderen Jungen, die um die Mahlzeiten anstanden. »Ich kann mich noch genau an die Kämpfe erinnern, die ausbrachen, sobald die Suppe ausgeteilt wurde – Kämpfe mit den anderen Kindern. Da ich sehr klein war, konnte ich mich nicht bis zum Suppenkessel durchkämpfen. Manchmal kam ich zurück, und mein Blechnapf war leer. Ich hatte überhaupt nichts. Meine Schwester war die ganze Zeit krank, und so mußten wir in die leeren Töpfe sehen, aus denen die Suppe geschöpft wurde, und wir sahen nach, ob noch etwas übriggeblieben war. Wir redeten viel über das Essen. Wir malten uns Speisen aus, die wir essen würden, obwohl wir zu Hause keine starken Esser gewesen waren, doch in dem Augenblick war der Hunger in uns einfach übermächtig.« Michel erkannte, daß er etwas unternehmen mußte, wenn sie überleben wollten, da er und seine Schwester mit jedem Tag schwächer wurden. Als er schließlich eine Anschlagtafel vor dem Lagerspital gelesen hatte, beschloß er zu handeln: »Darauf stand, daß Kinder unter fünf Jahren in der Krankenbaracke essen könnten. Und da ich lesen und schreiben konnte – ich habe später immer zu meinen Kindern gesagt, ihr müßt Lesen und Schreiben lernen, weil es sehr nützlich ist –, behauptete ich, ich sei fünf Jahre alt, und es klappte prima. So hatte ich zu essen, und meine Schwester bekam auch etwas ab«, weil es Michel gelang, Essen aus der Krankenbaracke hinauszuschmuggeln.
Was dieser Episode ihre besondere Bitterkeit verleiht in einer Geschichte, die voll ist von Grausamkeiten, ist nicht nur die gewaltsame Trennung der Kinder von ihren Eltern, sondern auch die Behandlung der Kinder durch die französischen Behörden, nachdem man sie in ihrer »Obhut« zurückgelassen hatte. Die Kinder wurden nicht nur vernachlässigt; sie wurden schlecht ernährt und blieben ohne emotionale Zuwendung. In diesem Augenblick ihres Lebens, als sie besonders schutzbedürftig waren, wurden sie obendrein noch gedemütigt. Trotz des Hungers und trotz des Schmutzes waren es die gedankenlosen Demütigungen in Beaune-la-Rolande, unter denen Michel Mulller am meisten litt: »Da die Hygienestandards sehr niedrig waren und wir alle Läuse hatten, haben sie uns das Kopfhaar abgeschnitten. Ich hatte damals volles lockiges Haar, und meine Mutter war sehr stolz auf mein Haar. Als ich an die Reihe kam, hielt mich dieser Gendarm zwischen seinen Beinen fest und sagte: ›Weißt du was, wir machen einen Letzten Mohikaner aus dir.‹ Und er schnitt mir eine Schneise mitten durch meine Haare von vorn nach hinten. Danach hatte ich links und rechts noch Haare, und den mittleren Teil hatte er kahlgeschoren. Ich schämte mich so, daß ich mir eine Baskenmütze klaute, um meinen Kopf zu bedecken.« Der Kopf Michels bot einen so furchtbaren Anblick, daß selbst seine neunjährige Schwester schockiert war. »Ich weiß noch, daß meine Mutter sein Haar so gern gekämmt hat. Er hatte schöne blonde Haare. Sie war stolz auf einen so hübschen kleinen Jungen. Doch nachdem sie ihm das Haar in der Mitte weggeschoren hatten, sah er scheußlich aus. Und ich glaubte zu verstehen, warum die Menschen den Juden aus dem Weg gehen, weil selbst mein eigener kleiner Bruder, wie ich ihn da sah mit seinem ungewaschenen Gesicht und diesen Haaren, mir zuwider war. Er hat einen Ekel in mir ausgelöst.« Nach ein oder zwei Tagen hatten die Gendarmen schließlich allen Kindern die Haare geschoren und schnitten Michel auch die restlichen Haare ab. Sie hatten ihren Spaß gehabt, aber Michel kann diese Demütigung bis heute nicht vergessen.
Inzwischen, es war Mitte August, waren Vorbereitungen getroffen worden, so daß die Franzosen in der Lage waren, diese Kinder zu deportieren und die Quoten zu erfüllen, die sie den Deutschen zugesagt hatten. Es war geplant, die Kinder von Beaune-la-Rolande und Pithiviers in das Sammelund Internierungslager Drancy zu bringen, das in einer nordöstlichen Vorstadt von Paris lag. Von dort aus sollten die Kinder dann nach Auschwitz deportiert werden, inmitten von
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