Auschwitz
Apologeten als Beleg dafür angeführt, daß die französischen Behörden sich unter der deutschen Besatzung relativ anständig aus der Affäre gezogen hätten. Doch das Gegenteil ist der Fall, da aller Wahrscheinlichkeit nach kaum etwas passiert wäre, wenn die Franzosen sich geweigert hätten, ihre »ausländischen« Juden auszuliefern. Selbst nach der Besetzung ganz Frankreichs im November 1942 griff die Besatzungsmacht nicht zu massiven Repressalien, als die französischen Behörden eine Hinhaltetaktik betrieben und die von den Deutschen geforderten Deportationsquoten nicht mehr einhielten.
Nach der Großrazzia in Paris im Juli 1942 und der Deportation der Kinder kam es zu deutlichen Protesten von Kirchenführern gegen das Vorgehen der politischen Führung Frankreichs. Der Erzbischof von Toulouse ließ in seiner Diözese am 23. August einen entsprechenden Hirtenbrief verlesen, und der Erzbischof von Lyon sagte Laval in einem Gespräch am 1. September, er unterstütze sowohl die Protestaktion als auch das Verstecken jüdischer Kinder bei Katholiken. Doch das alles kam zu spät, um jenen zu helfen, die bei der Polizeiaktion im Juli interniert worden waren. Die Mutter von Michel und Annette Muller kam in Auschwitz um. Und während es die Nationalsozialisten waren, die ihre Vernichtung betrieben, waren es die Franzosen, die sie der Gefahr dieser Vernichtung aussetzten. »Am meisten hat mir zu schaffen gemacht«, sagt Michel, »daß es dafür absolut keinen Grund gegeben hat. Die Menschen wurden einzig aus dem Grund verhaftet, weil sie als Juden geboren wurden. Und es waren die Franzosen, die es getan haben – das will mir bis heute nicht in den Kopf. Sechzig Jahre später ist es für mich immer noch unfaßbar.«
Ausnahmslos alle der über 4000 Kinder, die im Sommer 1942 ohne ihre Eltern von Frankreich aus deportiert wurden, starben in Auschwitz. »Als meine beiden Brüder davonliefen«, sagt Annette, »gab es einen Freund von ihnen aus der Schule, dessen Mutter ihm [ebenfalls] gesagt hatte, er solle weglaufen. Und als dieser Junge sich dann allein auf der Straße wiederfand, wollte er eigentlich wieder zurück zu seiner Mutter. Also bat er einen Polizeibeamten, ihn zu seiner Mutter zurückzubringen, und am Ende wurde er in die Gaskammern geschickt. Sie alle waren Kinder, die noch viel vor sich hatten. Sie waren voller Freude – Lebensfreude. Aber weil sie Juden waren, wurden sie in dieser Weise verurteilt. Und wie viele dieser Kinder hatten Fertigkeiten, Talente, gute Eigenschaften?«
Es gibt Augenzeugen für die Trennung der jüdischen Kinder von ihren Eltern, für ihre Leiden in den verschiedenen Internierungslagern, selbst für ihre »stoische« Haltung während der Transporte; doch nachdem sich die Tore von Auschwitz hinter ihnen geschlossen haben, blieb bis heute nur Schweigen. Der Versuch, sich diese oder ähnliche Szenen der Selektion vorzustellen – oder gar der Versuch, sich vorzustellen, wie es für einen Täter gewesen sein mußte, an diesem Vorgang zu beteiligt zu sein –, konnte unmöglich gelingen. Die einzige Möglichkeit, diese Finsternis zu durchdringen, hätte darin bestanden, einen glaubhaften Zeugen zu finden, der der SS angehört und in Auschwitz gearbeitet hatte. Unwahrscheinlicherweise und erst nach einer Suche von vielen Monaten gelang es uns, eine solche Person zu finden und mit ihr ein Gespräch zu führen: Oskar Gröning.
1942 wurde Gröning, damals 21 Jahre alt, nach Auschwitz abkommandiert. Er traf dort wenige Wochen nach den französischen Kindern ein und erlebte fast sogleich die Ankunft eines Transports an »der Rampe«, dem Bahnsteig, an dem die Juden den Zug verließen. »Ich stand an der Rampe«, sagt er, »und ich wurde einer Gruppe zugewiesen, die das Gepäck eines ankommenden Transports beaufsichtigen sollte.« 17 Er sah zu, wie SS-Ärzte zunächst die Männer von den Frauen und Kindern trennten und dann eine Selektion vornahmen, wer arbeitsfähig war und wer sofort vergast werden sollte. »Kranke wurden auf Lkw gehoben«, sagt Gröning. »Lkw mit dem Roten Kreuz – sie haben immer versucht, den Eindruck zu erwecken, daß die Menschen nichts zu befürchten hätten.« Er schätzt, daß zwischen 80 und 90 Prozent der Ankommenden des ersten Transports, den er im September 1942 erlebte, sofort für die Gaskammer ausgewählt wurden. Die Selektion vollzog sich in einer relativ geordneten Weise, sagt er: »Als das vorbei war, es ist wie bei einem Jahrmarkt, liegt viel Unrat
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