Auschwitz
es nicht zu, daß wir in den Waggons blieben. Ich habe meine Schwester dort zurückgelassen … Doch trotz allem konnten wir uns nicht vorstellen, was mit ihnen passieren würde … Ich erinnere mich nicht, daß sie geweint hätten. Ich sah diese Kleinen, einige von ihnen richtig niedlich, und sie wurden vernichtet. Es war grauenhaft.« Seit 60 Jahren erinnert sich Jo Nisenman Tag für Tag an das Leiden seiner Schwester und der übrigen Kinder von Drancy: »An der Rückseite des Hauses, in dem ich wohne, liegt ein Kindergarten, und ich sehe immer die Mütter, die ihre Kinder abholen wollen und Schokoladencroissants für sie dabeihaben. Doch die Kinder damals hatten keine Mütter, und sie bekamen auch keine Schokoladencroissants …«
Von all den unzähligen furchtbaren Episoden aus der Geschichte des Völkermords an den europäischen Juden durch die Nationalsozialisten ist die Geschichte der Ermordung der jüdischen Kinder, die aus Frankreich deportiert wurden, eine der erschütterndsten. Im Zentrum dieser Geschichte steht natürlich das schockierende Bild der Kinder, die von ihren Eltern getrennt werden. Aber es ist nicht einfach die grauenhafte Vorstellung von Kindern, die in Lagern wie Beaune-la-Rolande aus den Armen ihrer Mütter gerissen werden, die uns so verstören. Es ist die Tatsache, daß einige Eltern wie die Mütter, die ihren Kindern bei der ersten Razzia sagten, sie sollten davonlaufen, entgegen ihren natürlichen Impulsen handeln und sich von ihren eigenen Kindern trennen mußten, damit diese eine Chance zum Überleben hatten. Das emotionale Trauma, das mit einem solchen Schritt verbunden war, muß verheerend gewesen sein.
Selbst Höß entging nicht, daß Familien in Auschwitz um jeden Preis zusammenbleiben wollten. Und obwohl bei der Selektion an der Rampe die Männer von den Frauen und verheiratete Paare voneinander getrennt wurden, machten die KZ-Schergen schnell die Erfahrung, daß es in aller Regel ihren eigenen Interessen zuwiderlief, Mütter gewaltsam von ihren Kindern zu trennen. Obwohl sie wertvolle Arbeitskräfte verloren, wenn sie junge, gesunde Mütter mit ihren Kindern in die Gaskammer schickten, war ihnen doch klar, daß eine gewaltsame Trennung der Kinder von ihren Müttern bei der ersten Selektion derart entsetzliche Szenen zur Folge hätte, daß eine effiziente Durchführung des Vernichtungsprozesses fast unmöglich sein würde. Außerdem würde der Aufruhr, der aus dieser Trennung entstehen würde, mindestens so schlimm sein wie die seelische Verstörung der Mordkommandos, die Frauen und Kinder aus nächster Nähe erschießen sollten – gerade das, was mit den Gaskammern auf ein Minimum beschränkt werden sollte.
Nach den Kindertransporten im Sommer 1942 gelangten die französischen Behörden zu demselben Schluß. Nach dem letzten Deportationszug mit elternlosen Kindern, der am 31. August von Drancy abfuhr, erging eine Anweisung, keine weiteren derartigen Transporte durchzuführen. Zumindest in Frankreich sollten bei den Judendeportationen keine Kinder mehr ihren Müttern entrissen werden; von nun an wurden nur noch vollständige Familien nach Auschwitz geschickt. Aus dieser Tatsache sollte man allerdings keine falschen Schlüsse ziehen, denn die französischen Behörden hatten nicht etwa plötzlich ihr Herz für Kinder entdeckt, sondern vielmehr ebenso wie Höß in Auschwitz erkannt, daß es in ihrem eigenen Interesse lag, wenn sie die Kinder nicht von ihren Müttern trennten.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der diese Geschichte so bedrückend macht: die Mittäterschaft der französischen Behörden in jeder Phase. Wie die Besatzer in Frankreich von Anfang an erkannt hatten, wäre es unmöglich gewesen, die Juden ohne die Kollaboration der Franzosen zu deportieren. Und die französische Entscheidung, »ausländische« Juden auszuliefern und die »französischen« Juden zu retten, verrät ein Maß an Zynismus, das selbst nach so langen Jahren schwer zu ertragen ist (auch wenn dies, wie wir weiter unten noch zeigen werden, eine Entscheidung war, die in den folgenden Jahren von mehreren anderen Ländern in derselben Weise getroffen wurde). Alles in allem wurden bei den Deportationen aus Frankreich während des Kriegs knapp 80 000 Juden getötet, etwa 20 bis 25 Prozent der Juden, die während dieser Zeit in Frankreich gewohnt haben. Diese Zahl, die man auch so ausdrücken kann, daß in Frankreich vier von fünf Juden den Völkermord überlebt haben, wird gelegentlich von
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