Auschwitz
rum. Und für den Unrat, in dem Unrat selber, saßen dann Kranke, nicht mehr Gehfähige, und es sind dann Dinge passiert, die mich in Aufruhr gebracht haben, daß ein Kind, das da nackt lag, einfach an den Beinen gefasst wurde und mit ’nem Wuppdich auf den Lkw geschmissen, der es dann weggefahren hat, und wenn es geschrien hat, wie ein krankes Huhn, eben einmal an die Kante des Lkw mit dem Kopf geschlagen, damit es ruhig war.«
Gröning war seiner Aussage zufolge so voller »Zweifel und Empörung«, daß er zu seinem vorgesetzten Offizier ging und ihm sagte, es sei ihm unmöglich, noch weiter dort zu arbeiten. Sein Vorgesetzter hörte sich Grönings Beschwerde ruhig an, erinnerte ihn an den Treueid, den er als SS-Mann geschworen hatte, und sagte, er könne den Gedanken, aus Auschwitz woandershin abkommandiert zu werden, vergessen. Zugleich machte er ihm gewisse Hoffnungen – wenn man es so nennen will. Er sagte Gröning, daß die »Exzesse«, die er an jenem Abend mit angesehen hatte, eine »Ausnahme« seien und daß er persönlich seine Meinung teile, daß Angehörige der SS sich an derartigen »sadistischen« Handlungen nicht beteiligen sollten. Dokumente bestätigen, daß Gröning anschließend ein Gesuch einreichte, an die Front versetzt zu werden, das jedoch abgelehnt wurde. So blieb ihm nichts anderes übrig, als in Auschwitz weiter seine Arbeit zu verrichten.
Bezeichnenderweise beschwerte sich Gröning bei seinem Vorgesetzten nicht über die Ermordung der Juden selbst, sondern lediglich über die Art und Weise ihrer praktischen Durchführung. Wenn er Menschen vor sich sah, von denen er wußte, daß sie in den nächsten Stunden sterben würden, hatte er unentschiedene Empfindungen. Für ihn waren Juden Kriegsgegner, sie zu töten, sei eine Kriegshandlung. Die Propaganda habe ihm das so beigebracht. Auf die Nachfrage, warum auch Kinder getötet wurden, sagt Gröning: »Die Kinder sind noch nicht der Feind. Der Feind ist das Blut in ihnen. Der Feind ist das Nachwachsen zu einem Juden, der gefährlich werden kann. Deswegen sind die Kinder mit beinhaltet.«
Hinweise darauf, wie es möglich war, daß Oskar Gröning in hilflosen Frauen und Kindern »Feinde« sah, die man vernichten mußte, liefert seine Lebensgeschichte, bevor er nach Auschwitz kam. Geboren wurde er 1921 in Niedersachsen als Sohn eines Textilfacharbeiters. Sein Vater war ein traditioneller Konservativer, »stolz auf das, was Deutschland erreicht hatte«. Eine der frühesten Erinnerungen Grönings sind Fotografien seines Großvaters, der in einem Eliteregiment des Herzogtums Braunschweig gedient hatte. »Seine Stellung beeindruckte mich ungeheuer, als ich noch ein Junge war. Er saß auf seinem Pferd und blies in seine Trompete. Es war faszinierend.« Nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg trat Grönings Vater in den rechtsgerichteten Stahlhelm ein, eine der vielen ultranationalistischen Organisationen, die nach dem von ihnen so bezeichneten Schmachfrieden von Versailles aufkamen. Die Erbitterung seines Vaters über die Art und Weise, wie Deutschland von den Siegermächten behandelt worden war, nahm noch zu, als seine persönlichen Verhältnisse sich verschlechterten; die Firma, in der er arbeitete, mußte 1929 Konkurs anmelden. In den frühen dreißiger Jahren ging Oskar zur Jugendorganisation des Stahlhelms, der Scharnhorst-Jugend: »Ich trug eine graue Militärmütze mit passendem Hemd und Hosen. Wir sahen ziemlich eigenartig aus, aber wir waren stolz darauf. Und wir trugen Schwarz-Weiß-Rot, die Farben der Reichsflagge unter Kaiser Wilhelm.«
Nichts lag für den inzwischen elfjährigen Oskar Gröning näher, als nach der Machtübernahme Hitlers Anfang 1933 von der Scharnhorst-Jugend in die Hitlerjugend einzutreten. Er übernahm die Wertvorstellungen seiner Eltern und deren Urteil, die Nationalsozialisten seien »die Leute, die das Beste für Deutschland wollten und auch etwas dafür taten«. Als Hitlerjunge beteiligte er sich an der Verbrennung der Bücher, die »von Juden oder anderen Leuten, die entartet waren« geschrieben worden waren. Und er glaubte, auf diese Weise trage er dazu bei, Deutschland von einer nicht zu ihm passenden, »artfremden« Kultur zu befreien. Gleichzeitig war er überzeugt, daß die NSDAP durch ihren Einsatz auch wirtschaftliche Erfolge aufzuweisen hatte: »Innerhalb von sechs Monaten [nach Hitlers Machtantritt] waren die fünf Millionen Arbeitslosen von den Straßen verschwunden, und jeder hatte
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