Auschwitz
Hinblick auf diesen »anderen« Gröning kann er grausam ehrlich sein. Entscheidend dabei ist, daß er sich davor schützt, die volle Verantwortung dafür zu übernehmen, daß er an dem Vernichtungsprozeß beteiligt war, indem er ständig auf die Macht der Propaganda zu sprechen kommt, der er ausgesetzt war, und die Auswirkung der ultranationalistischen Atmosphäre in der Familie, ihn der er aufwuchs. Erst nach dem Krieg, nachdem er einer anderen Weltanschauung ausgesetzt war – welche die Annahmen der Nationalsozialisten über die »jüdische Weltverschwörung« und die Rolle der Juden beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Frage stellte –, konnte sich der »neue« Oskar Gröning zeigen, nunmehr imstande, sich dem Leben als nützlicher Bürger in einem modernen, demokratischen Deutschland zu stellen.
Das heißt nicht, daß Gröning versucht hätte, sich auf einen Befehlsnotstand zu berufen. Er stellte sich nicht als einen seelenlosen Automaten dar, der jeden ihm erteilten Befehl ausgeführt hätte. Die Unterstellung, daß er es möglicherweise auch akzeptiert hätte, daß »arische« Kinder ermordet worden wären, weist er vehement zurück. Er straft die bei einigen Historikern anzutreffende Vorstellung Lügen, die SS sei durch ihre Ausbildung so verroht worden, daß sie auf Befehl jeden umgebracht hätte. Nein, die Überlegungen Grönings bei seinen Entscheidungen bewegten sich in wesentlich komplexeren Bahnen. Gewiß, er macht geltend, er sei von der Propaganda seiner Zeit stark beeinflußt worden, aber er hatte dennoch während des Kriegs einige ganz persönliche Entscheidungen getroffen. Er machte in Auschwitz nicht einfach nur deshalb weiter, weil man es ihm befohlen hatte, sondern weil er nach allen »Beweisen«, die man ihm genannt hatte, überzeugt war, das Vernichtungsprogramm sei richtig. Nach Kriegsende bestritt er zwar die Richtigkeit der Beweise, mit denen man ihn konfrontierte, behauptete jedoch nicht, er habe damals so gehandelt, weil er eine Art Roboter gewesen sei. Zeit seines Lebens war er überzeugt, er habe das getan, was in seinen Augen »richtig« war; nur daß das, was damals »richtig« war, sich als etwas herausstellte, was heute nicht mehr »richtig« ist.
Wir sollten nicht zu hart über eine solche Strategie der Selbstrechtfertigung urteilen. Natürlich hätte er sich anders entscheiden können. Er hätte die Werte seiner Gemeinschaft ablehnen und sich widersetzen können. Er hätte von Auschwitz desertieren können (auch wenn bislang nichtsdarüber bekannt geworden ist, daß ein SS-Mann sich so verhalten hätte, weil er es aus moralischen Gründen ablehnte, in dem Lager zu arbeiten). Aber man hätte ein außergewöhnlicher Mensch sein müssen, um in dieser Weise zu handeln. Und der entscheidende, fast erschreckende Punkt bei Oskar Gröning liegt darin, daß er einer der am wenigsten außergewöhnlichen Menschen ist, denen man wahrscheinlich begegnen wird. Nach einigen Jahren Haft als Kriegsgefangener fand er eine Anstellung in der Personalabteilung einer Glaswarenfabrik, wo er unauffällig bis zu seiner Rente arbeitete. Das einzig Abnormale in Grönings ansonsten ganz und gar normalem Leben war die Zeit, während der er in Auschwitz tätig war.
Eine Untersuchung der historisch-soziologischen Merkmale der SS in Auschwitz auf der Grundlage statistischer Angaben gelangte zu dem Ergebnis, daß »die SS-Lagerbesatzung in ihrer Berufsstruktur und in ihrem Bildungsniveau nicht aus dem Rahmen fiel. Sie war weitgehend ähnlich der Gesellschaft, aus der sie rekrutiert worden war.« 18 Oskar Gröning ist ein perfektes Beispiel für diesen Befund. Er war auch darin typisch, daß er den unteren Rängen der SS angehörte – der höchste Rang, den er erreichte, war der eines Rottenführers. Rund 70 Prozent der SS-Männer in Auschwitz fielen in diese Kategorie; 26 Prozent waren Unterscharführer (der nächsthöhere Rang nach dem des Rottenführers, vergleichbar dem eines Unteroffiziers der Wehrmacht); und nur 4 Prozent der gesamten SS-Besatzung in Auschwitz hatten einen höheren Rang als den eines Rottenführers. In Auschwitz I (Stammlager) und den zugehörigen Nebenlagern waren zu keiner Zeit mehr als etwa 3000 SS-Männer stationiert. 19 Die SS-Verwaltung des Lagers war in fünf Hauptabteilungen unterteilt: Büros der Lagerleitung, Lazarett der SS, Büros der politischen Abteilung (Gestapo und Kripo), Wirtschaftsbaracken (einschließlich des Magazins für das Eigentum der Ermordeten) und die
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