Auschwitz
Ich hatte bis dahin noch nie etwas von Auschwitz gehört.«
Sie kamen am späten Abend an und wurden von Militärpolizisten zum Hauptlager gebracht, wo sie sich im zentralen Verwaltungsgebäude meldeten und »provisorische« Schlafstellen in den SS-Baracken zugewiesen bekamen. Die anderen SS-Männer, die sie an diesem Abend in den Baracken trafen, waren freundlich und begrüßten sie herzlich. »Wir wurden von den Männern, die dort waren, akzeptiert, und sie sagten: ›Habt Ihr schon etwas gegessen?‹ Wir verneinten, und sie besorgten uns etwas.« Gröning war überrascht, daß es außer den Grundrationen der SS an Brot und Wurst Zusatzrationen gab, Rollmops und Ölsardinen. Ihre neuen Kameraden hatten auch Rum und Wodka, die sie mit den Worten auf den Tisch stellten: »Bedient euch!« »Wir ließen uns nicht lange bitten und fühlten uns schnell wohl. Wir fragten: ›Was für ein Lager ist das hier?‹, und sie sagten, das würden wir schon noch sehen – ein Konzentrationslager besonderer Art. Plötzlich ging die Tür auf und jemand rief: ›Transport!‹, worauf drei oder vier Leute aufsprangen und verschwanden.«
Nachdem sie ausgeschlafen hatten, meldete sich Gröning mit den anderen Neuankömmlingen wieder im zentralen Verwaltungsgebäude. Sie wurden von mehreren hohen SSFührern über ihren Werdegang vor dem Krieg befragt: »Wir mußten angeben, was wir getan hatten, welche berufliche Tätigkeit, welche Schulbildung. Ich sagte, ich sei Bankangestellter und würde gern in der Verwaltung arbeiten, und einer der SS-Führer sagte: ›Ach, so jemanden kann ich gebrauchen.‹ Also nahm er mich mit, und wir gingen zu einer Baracke, in der das Geld der Häftlinge aufbewahrt wurde. Man sagte mir, wenn sie ihre Häftlingsnummer bekämen, würde ihr Geld hier eingetragen, und wenn sie das Lager wieder verließen, erhielten sie es zurück.«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Gröning von Auschwitz den Eindruck, daß es ein »normales Konzentrationslager« war, abgesehen von den überdurchschnittlich hohen Lebensmittelrationen für die SS-Männer. Doch als er sich an die Arbeit machte und das Geld der Häftlinge eintragen wollte, erfuhr er zum ersten Mal von der zusätzlichen, »ungewöhnlichen« Aufgabe von Auschwitz: »Die Leute dort [in den Baracken] sagten uns, daß nur ein Teil von diesem Geld den Häftlingen zurückgegeben werde. Es kämen Juden in das Lager, mit denen man anders verfahre. Das Geld, das ihnen hier abgenommen werde, erhielten sie nicht mehr zurück.« Gröning fragte: »Hat das etwas mit dem ›Transport‹ zu tun, der letzte Nacht hier ankam?« Und seine Kollegen erwiderten: »Ach, wußtest du das nicht? So läuft das hier. Judentransporte kommen hier an, und wenn sie nicht arbeitsfähig sind, müssen wir sie loswerden.« Gröning wollte von ihnen wissen, was »loswerden« genau bedeutete, und nachdem man es ihm gesagt hatte, reagierte er mit Erstaunen: »Man kann es sich nicht wirklich vorstellen. Ich konnte es erst dann ernsthaft glauben, als ich während der Selektion auf die Wertsachen und die Koffer aufpassen mußte. Wenn Sie mich dazu befragen – es war ein Schock, den man im ersten Augenblick nicht verkraften kann. Aber Sie dürfen nicht vergessen, daß nicht erst seit 1933, sondern schon vorher die Propaganda, der ich in der Presse, den Medien, der allgemeinen Gesellschaft, in der ich lebte, ausgesetzt war, uns einhämmerte, daß die Juden die Ursache des Ersten Weltkriegs waren und am Ende Deutschland auch den ›Dolchstoß in den Rücken‹ gegeben hätten. Wir waren der festen Überzeugung, das war unsere Weltanschauung – wir Deutschen, wir sind im Grunde genommen betrogen rings von der Welt, und das ist eine große Verschwörung des Judentums gegen uns. Und so wurde auch in Auschwitz geredet – daß wir das verhindern müßten, verhindern müßten, was im Ersten Weltkrieg geschah, daß nämlich die Juden uns ins Elend gestürzt hätten. Die Feinde im Inneren Deutschlands würden notfalls getötet – vernichtet. Und zwischen diesen beiden Kämpfen, offen an der Front und dann an der Heimatfront, bestehe absolut kein Unterschied – und somit vernichteten wir nichts anderes als Feinde.«
Mit Oskar Gröning heute zusammenzutreffen und seinem Versuch zuzuhören, seine Zeit in Auschwitz zu erklären, ist ein eigenartiges Erlebnis. Inzwischen über achtzig Jahre alt, spricht er fast so, als gäbe es noch einen anderen Oskar Gröning, der vor 60 Jahren in Auschwitz eingesetzt war, und im
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