Auschwitz
waren und das Lager aufgeräumt worden war. Stangl und Wirth erkannten außerdem sofort das Hauptproblem, vor dem Eberl gestanden und das einen reibungslosen Ablauf der Tötungsmaschine verhindert hatte: die Kapazität der Gaskammern. Daraufhin wurden sofort mehr und größere Gaskammern gebaut – in einem Ziegelgebäude mit einem Mittelgang, von dem links und rechts jeweils vier getrennte Gaskammern abgingen. Jede dieser Kammern war auch von außen zugänglich, was bedeutete, daß der Abtransport der Leichen wesentlich einfacher war als vorher. Die neuen Gaskammern hatten ein Fassungsvermögen von insgesamt über 3000 Menschen, das Sechsfache der früheren Gaskammern. Neben dem Bau der neuen Gaskammern, die im Oktober einsatzbereit waren, führte Stangl eine Reihe von Maßnahmen ein, die alle darauf berechnet waren, den Argwohn der ankommenden Juden zu zerstreuen. Die Selektionsbaracke hinter dem Bahnsteig, an dem die Transporte einliefen, wurde so angestrichen, daß sie wie ein normaler Bahnhof wirkte samt Hinweisen auf Wartesäle. Es gab Blumen in Blumenkübeln, und der gesamte Ankunftsbereich war so sauber und ordentlich wie möglich gehalten.
Bis vor kurzem wußte niemand genau, wie viele Menschen 1942 in Vernichtungslagern wie Treblinka umgekommen waren. Die SS vernichtete alle schriftlichen Unterlagen, denen man die Wahrheit hätte entnehmen können, und infolgedessen gingen die Schätzungen weit auseinander. Doch vor einigen Jahren entdeckte man im Public Record Office in London ein Dokument, mit dem eine Wissenslücke geschlossen werden konnte. 40 Es ist der Text eines deutschen Funkspruchs, der von den Engländern abgefangen und dechiffriert wurde und statistische Angaben über die Zahl der Ermordeten in den Vernichtungslagern der Operation Reinhardt bis zum 31. Dezember 1942 enthält.
Der deutsche Funkspruch enthüllte, daß Treblinka, Bełżecec, Sobibór und Majdanek (ein Vernichtungslager mit wesentlich kleinerer Kapazität im Distrikt Lublin) bis zum genannten Zeitpunkt insgesamt 1 274 166 Menschen getötet hatten. Dabei entfielen auf Majdanek 24 733, auf Sobibór 101 370 und 434 508 auf Bełżec. Die in dem abgefangenen Funkspruch genannte Zahl von 71 355 für Treblinka ist offensichtlich ein Verschreiber, denn um die angegebene Gesamtsumme zu erreichen, hätte diese Zahl 713 555 lauten müssen. Treblinka war demnach im Jahr 1942 offiziell das Vernichtungslager mit der größten Zahl von Ermordeten. Auschwitz lag weit dahinter.
Das sollte sich allerdings bald ändern.
4. Korruption
Das Jahr 1943 brachte für Auschwitz und die »Endlösung« eine entscheidende Wende. Während sich 1941 die Vernichtungspolitik auf die besetzte Sowjetunion konzentrierte, wo man mobile Erschießungskommandos einsetzte, und 1942 auf die Lager der »Aktion Reinhard«, sollte nun, drei Jahre nach seiner Errichtung, Auschwitz ins Zentrum rücken. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig und komplex.
Anfang 1943 unternahm Himmler eine Inspektionsreise nach Treblinka und Sobibór, um sich persönlich von der Effizienz seiner Todesfabriken zu überzeugen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man in den Lagern der »Aktion Reinhard« bereits 1,65 Millionen Menschen ermordet (97 Prozent der insgesamt 1,7 Millionen Opfer dieser Vernichtungsaktion). 1 Angesichts dieses »Erfolges« ordnete Himmler am 16. Februar die Räumung des Warschauer Ghettos an, für dessen Bestehen er nun keine Notwendigkeit mehr sah. Im April dann geschah das Unvorstellbare – zumindest aus Sicht der Nationalsozialisten: Die Juden im Warschauer Ghetto wehrten sich. Zum ersten Mal sahen sich die Nationalsozialisten dem organisierten bewaffneten Widerstand einer großen Zahl entschlossener Juden gegenüber – und das an einem so exponierten Ort wie dem Zentrum der Hauptstadt Polens. 2
Die ersten Deportationen im Sommer 1942 aus dem Warschauer Ghetto, dem größten, das die Nationalsozialisten je eingerichtet hatten, waren ohne Zwischenfälle verlaufen. Etwa 300 000 Juden waren nach Treblinka deportiert worden, was die Einwohnerzahl des Ghettos auf rund 60 000 reduziert hatte. Doch seit die Ghettobewohner wußten, daß die Deutschen vorhatten, sie alle zu töten, schloß sich eine immer größere Zahl von ihnen der im Juli 1942 im Ghetto gegründeten Jüdischen Kampforganisation (Zydowska Organizacja Bojowa) an. Gemeinsam mit dem Jüdischen Militärverband (Zydowski Zwiazek Wojskowy) planten sie, sich gegen weitere Deportationsversuche
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