Auschwitz
von uns abtrennt. Denn stellen Sie sich einmal vor, ich hätte wirklich gedacht: ›Mein Vater, meine Eltern, sind gerade in der Gaskammer.‹ Ich wäre zusammengebrochen und dann hätte man mich umgebracht … Wenn ich nur eine Träne vergieße, werde ich getötet.«
Kurz nach der Selektion traf Toivi einen Freund wieder – Józek, der bereits mit einem früheren Transport nach Sobibór gekommen war. Er und sein Vater waren der Gaskammer entronnen, weil sein Vater Zahnarzt und er sein »Gehilfe« war. Toivi erzählt: »Wir gingen hinter die Baracken, und dort sah ich Männer mit einer Geige und einer Mundharmonika und einige tanzten. Ich sagte zu Józek: ›Ich verstehe das nicht. Ihr seid hier in einem Todeslager. Wie könnt ihr das bloß tun? Wir könnt ihr tanzen?‹ Und da sagte er: ›Wir leben von geliehener Zeit, Toivi. Wir werden so oder so sterben. Hier ist Schluß. Siehst du den Rauch? Dein Vater, dein Bruder, deine Mutter sind in Rauch aufgegangen. Wir werden auch in Rauch aufgehen. Was macht es also aus? Sollen wir alle schwarze Armbinden tragen? Wir würden keinen Tag überleben!‹«
Toivis Leben in Sobibór glich in vieler Hinsicht dem der Arbeiterinnen in »Kanada«. Es waren genügend Lebensmittel vorhanden – vieles stammte aus dem Besitz der Juden, die vergast worden waren –, und die Arbeiter wurden weder geschoren, noch mußten sie Häftlingskleidung tragen. Doch anders als in »Kanada« kamen die Arbeiter in Sobibór mit der todbringenden Funktion des Lagers in engen, um nicht zu sagen, intimen Kontakt.
Toivi Blatt erfuhr bald, worin seine Rolle im Arbeitsablauf des Lagers bestand: »Es kam ein Transport aus Holland mit etwa 3000 Juden an. Der Zug wurde in Gruppen von acht bis zehn Waggons unterteilt, die dann auf ein spezielles Nebengleis geschoben wurden. Dort öffneten die Leute vom sogenannten Bahnhofskommando – ebenfalls Juden – die Türen der Waggons und nahmen das schwere Gepäck entgegen. Ich stand bei den anderen jüngeren Männern, und wir mußten den Ankömmlingen auf holländisch Anweisungen geben. Ich sagte ihnen, daß sie ihr Gepäck abstellen sollten. Die Frauen hatten immer noch ihre Handtaschen bei sich. Und so wurde ihnen befohlen, sie auf einen Haufen zu werfen. In diesem Moment sah ich, wie ihre Augen einen seltsam angespannten Ausdruck annahmen. Sie bekamen Angst. Manche wollten ihre Taschen nicht hergeben und wurden von einem Deutschen mit einer Peitsche geschlagen. Dann gingen sie in einen großen Hof, wo ein Deutscher, den wir den ›Todesengel‹ nannten, eine honigsüße Ansprache hielt. Er entschuldigte sich für die anstrengende dreitägige Reise und sagte, daß sie ja nun an einem schönen Ort wären, und Sobibór war ja wirklich schön. Und dann sagte er: »Aus hygienischen Gründen müssen Sie jetzt erst einmal alle duschen, und später wird man Sie dann weiterschicken.‹ Da klatschten einige und riefen ›Bravo!‹, und alle zogen sich folgsam aus und gingen durch einen langen Raum von vielleicht 60 Metern hindurch zu einer Baracke. Und da stand ich dann wieder und wartete auf sie. Schließlich kamen die ersten Frauen, vollkommen nackt. Kleine Mädchen, ältere Mädchen, alte Frauen. Ich war ein schüchterner Junge und wußte nicht, wo ich hinsehen sollte. Dann drückte man mir eine lange Schere in die Hand. Ich hatte keine Ahnung, was ich damit machen sollte. Mein Freund, der schon etwas Erfahrung hatte, erklärte mir: »Schneide ihnen die Haare ab. Du mußt es dicht am Kopf abschneiden.‹ Aber sie baten mich, ein bißchen was stehen zu lassen, besonders die jungen Mädchen; sie wollten nicht, daß ich soviel abschneide. Sie wußten nicht, daß sie in ein paar Minuten sterben würden. Dann befahl man ihnen, noch ein paar Schritte weiter zur Gaskammer zu gehen. Das Täuschungsmanöver funktionierte so perfekt, daß viele wirklich geglaubt haben müssen, es ginge nur zum Duschen. Wahrscheinlich hielten sie sogar das ausströmende Gas noch für einen technischen Defekt.«
Der Prozeß, an dem Toivi Blatt mitwirkte, war so effizient und so zuverlässig gegen jedwede Störfälle abgesichert, daß innerhalb von weniger als zwei Stunden 3000 Menschen in Empfang genommen, ihrer Besitztümer und Kleider entledigt und getötet werden konnten. »Ich weiß noch, was ich dachte, als die Arbeit getan war, als man sie schon aus den Gaskammern geholt hatte, um sie zu verbrennen; ich dachte, was es doch für eine schöne Nacht wäre mit all den Sternen – und so
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