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Auschwitz

Auschwitz

Titel: Auschwitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Rees
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still … 3000 Menschen waren gestorben. Und nichts war passiert. Die Sterne standen noch an derselben Stelle.«
    Die holländischen Juden, die in Sobibór eintrafen, waren so ahnungslos, daß sie sich widerstandslos in die Gaskammern führen ließen; doch nicht so die polnischen Juden. Die Mehrzahl von ihnen ließ sich nicht vorgaukeln, daß dies nur eine »hygienische Maßnahme« sei. ›Wie kannst du das bloß tun?‹ fragte eine Polin mittleren Alters Toivi, als er ihr das Haar abschnitt. »Sie werden auch dich umbringen. Deine Zeit wird kommen!« Toivi, für den diese Worte »wie ein Fluch« klangen, erwiderte nichts. »Mich beherrschte nur ein Gedanke: Wie kann ich überleben – wie? Ich würde zwar sterben, aber heute lebte ich noch, und heute wollte ich noch nicht sterben. Und dann kam der nächste Tag, und auch an dem wollte ich noch nicht sterben.«
    Natürlich war sich Toivi der Tatsache bewußt, daß er, wenn auch unfreiwillig, zum reibungslosen Arbeitsablauf im Lager beitrug. Und ihm war auch klar, daß es Juden waren, die Haare abschnitten, Kleider sortierten, Gepäck aus den Zügen holten und das Lager säuberten – also die meisten der für einen funktionierenden Lagerbetrieb notwendigen praktischen Arbeiten verrichten: »Ja, natürlich war mir das bewußt«, sagt er. »Aber niemand tat etwas. Ich war erst fünfzehn Jahre alt und war von so vielen erfahreneren Erwachsenen umgeben, aber keiner unternahm etwas. Menschen verändern sich in bestimmten Situationen. Ich bin gefragt worden: ›Was hast du gelernt?‹, und ich denke, für mich steht nur eines fest – niemand kennt sich selbst. Der nette Mensch auf der Straße, den du fragst: ›Wo ist die Nordstraße?‹, und der einen halben Block mit dir geht und sie dir zeigt und nett ist und freundlich. Dieser selbe Mensch könnte unter anderen Umständen ein richtiger Sadist sein. Niemand kennt sich selbst. Wir können alle gut oder schlecht sein in unterschiedlichen Situationen. Manchmal denke ich, wenn jemand richtig nett zu mir ist: ›Wie ist der in Sobibór?‹«
    Viele, die die Schrecken der Lager durchlebt haben, teilen Toivi Blatts Ansicht, daß sich Menschen in bestimmten Situationen verändern. Und es steckt mehr dahinter als die banale Tatsache, daß Menschen ihr Verhalten den äußeren Umständen anpassen – etwas, was wir alle tagtäglich tun. Es versteht sich von selbst, daß wir uns auf einem Rockkonzert anders verhalten als auf einer Beerdigung. Was Toivi meint, ist eine grundlegende Veränderung unter extremen Bedingungen, die weniger das Verhalten als das Wesen eines Menschen betrifft.
    Das Beunruhigende ist allerdings, daß meiner Erfahrung nach viele Täter dieses Erklärungsmodell zu ihrer Rechtfertigung heranziehen. Ich erinnere mich noch, daß ein ehemaliges loyales NSDAP-Mitglied auf meine insistierende Frage, warum denn so viele Deutsche das verbrecherische Regime gestützt hätten, verärgert antwortete: »Das Problem heutzutage ist doch, daß sich Leute, die nie etwas Vergleichbares erlebt haben, ein Urteil über Menschen erlauben, die mit dieser Situation zurechtkommen mußten.« Eine Aussage, der Toivi Blatt zweifellos beipflichten würde.
    Natürlich bedeutet das nicht, daß die Erfahrungen im Lager zwangsläufig nur das Negative im Menschen hervorkehren mußten. Man hat immer eine Wahl. Deshalb gab es auch in Sobibór Menschen, die über sich selbst hinauswuchsen, wie Toivi Blatt zu berichten weiß: »Als wir einmal den Sandweg rechten, der zu den Gaskammern führte, merkte ich irgendwann, daß ich mit dem Rechen anstellen konnte, was ich wollte, daß immer noch irgendwelche kleinen Fetzchen im Sand zurückblieben. Als ich meinen Freund fragte, was das denn wäre, sagte er: ›Das ist Geld.‹ Und ich weiß noch, daß ich dachte: ›Meine Güte, da sind Leute, die genau wissen, daß sie in den Tod gehen, und die haben die ganze Zeit noch ein paar Dollar oder Rubel in der Hand. Und als ihnen klar wird, daß es gleich zu Ende geht, machen sie sich die Mühe, ihr Geld in kleine Fetzchen zu zerreißen, damit sie nicht dem Feind in die Hände fallen. In meine Augen ist das Heldentum – ein Heldentum der Seele.«
    Als Toivi Blatt darüber nachdachte, ob er sich an Widerstandsaktionen gegen die Deutschen beteiligen würde, hatte er mit etwas zu kämpfen, das er als »umgekehrten« Rassismus bezeichnete. Beim ersten Mal, als er deutsche Soldaten mit ihren Stahlhelmen und schneidigen Uniformen gesehen hatte, war ihm

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