Auschwitz
– sie schaffen uns in ein Konzentrationslager.‹« Doch als der Zug die Abzweigung passierte, die zum Arbeitslager Trawniki führte, und immer weiter Richtung Sobibór fuhr, nahmen die Gespräche einen kämpferischen Ton an: »Ich hörte Leute, die sagten: ›Wir sollten uns wehren!‹ Und ich hörte Leute wie meinen Vater, die meinten: ›Nein, wir sterben ja sowieso.‹«
Einige Stunden später erreichten sie Sobibór, und Toivi erlebte seinen ersten Schock: »Ich hatte mir Sobibór als einen grausigen Ort vorgestellt, weil sie dort Menschen verbrannten und vergasten. Aber was ich jetzt sah, waren richtig nette Häuser und die Villa des Kommandanten, grün gestrichen, mit einem kleinen Zaun und Blumen. Auf der anderen Seite war eine Plattform, die man für einen Bahnsteig halten sollte – die war für die Juden aus Holland oder Frankreich gedacht, denn sie wußten nicht, wo man sie hinbrachte und was mit ihnen passieren würde … Aber wir polnischen Juden wußten es.«
Sobald die Neuankömmlinge die Güterwagen verlassen hatten, wurden sie getrennt: Frauen und Kinder in eine Gruppe, die Männer in die andere. Mit seinen fünfzehn Jahren war Toivi ein Grenzfall, da er aber kräftig und gut gebaut war, wurde er den Männern zugeordnet: »Ich stand bei meiner Mutter und nahm in einer Weise von ihr Abschied, die mich bis heute quält – und mich wahrscheinlich bis zu meinem letzten Tag quälen wird. Statt sie in die Arme zu nehmen, wie es die anderen Leute taten, die sich von ihren Frauen und Kindern verabschiedeten, sagte ich zu ihr: ›Mama, du hast gesagt, daß ich nicht die ganze Milch austrinken soll, damit noch etwas für morgen bleibt.‹ Es klang wie ein Vorwurf. Jedenfalls antwortete sie: ›Ist das alles, was du mir zu sagen hast?‹ … Die Sache war nämlich die: Am Tag, bevor wir nach Sobibór gebracht wurden, hatte ich Durst und fragte meine Mutter, ob ich etwas Milch haben dürfte. Und sie erlaubte es mir. Und dann habe ich wohl zuviel getrunken, denn sie ermahnte mich: ›Toivi, laß noch etwas für morgen übrig.‹ Und das war es, woran ich meine Mutter erinnerte, als sie auf dem Weg in die Gaskammer war.«
Wie in allen Vernichtungslagern der »Aktion Reinhard« wurde in Sobibór bei der Ankunft grundsätzlich keine Selektion durchgeführt. Alle wurden ausnahmslos in die Gaskammern geschickt. Doch gelegentlich kam es vor, daß die Deutschen neue Arbeitskräfte für das Lager benötigten und aus den Neuankömmlingen eine kleine Zahl von Juden auswählten. Toivi hatte Glück, denn heute war es wieder soweit. Als sie sich alle in einer Reihe aufstellen mußten, wußte er, daß die Deutschen einige von ihnen verschonen würden – vielleicht Schuster oder Schneider: »Ich hatte keinerlei Ausbildung, aber ich wollte leben und schickte ein Stoßgebet zum Himmel – damals betete ich noch. Und in Gedanken beschwor ich diesen Deutschen ›Bitte nimm mich!‹ … und ich glaube heute noch, daß ich mit meiner starken Willenskraft irgendwie zu ihm durchdrang, als er vor unserer Reihe auf und ab ging. Und dann spürte ich seinen Blick auf mir und dachte nur: ›Lieber Gott, hilf mir!‹ Und da sagte er: ›Tritt vor, Kleiner!‹ Mein Glück war, daß sie zu diesem Zeitpunkt wirklich Leute brauchten. Sie suchten 40 Männer aus. Und so habe ich in Sobibór angefangen zu hoffen.«
Toivis Vater wurde mit den anderen zur Gaskammer geführt. Toivi versuchte ihn zu retten, indem er den Deutschen zurief: »Er ist Gerber!«. Doch »sie brauchten Zimmerleute, sie brauchten vielleicht Schneider, aber ihn brauchten sie nicht.« Als er zusah, wie sein Vater seinem Tod entgegenging, habe er »nichts gefühlt«, gesteht Toivi. »Das beschäftigt mich noch immer. Wissen Sie, wenn mein Vater oder meine Mutter früher gestorben wäre – meinetwegen nur zwei Tage früher –, wäre das für mich ein schreckliches Unglück gewesen. Ich hätte Tag und Nacht geweint. Und nun verlor ich in derselben Stunde, in derselben Minute, meinen Vater, meine Mutter und meinen zehnjährigen Bruder, und ich vergoß keine Träne. Das war mir in diesem Moment nicht einmal bewußt. Später, als ich die anderen im Lager beobachtete, fiel mir auf, daß niemand weinte. Bis dahin hatte ich gedacht: ›Vielleicht stimmt mit mir etwas nicht.‹ Als ich nach dem Krieg andere Überlebende traf, habe ich sie gefragt: ›Hast du geweint?‹ ›Nein, nie‹, war die Antwort. Es ist, als ob uns unser Instinkt schützt, als ob er unsere Gefühle
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