Auschwitz
Häfen verließen, bis hin zu dänischen Geistlichen, die den Juden auf ihrer Flucht beistanden. Am 3. Oktober wurde in den Kirchen ein Hirtenbrief des Bischofs von Kopenhagen verlesen, der die klare Position der Kirche zum Ausdruck brachte: »Wo immer Juden aus rassischen oder religiösen Gründen verfolgt werden, ist es die Pflicht der christlichen Kirche, den Verfolgten Schutz zu gewähren … Ungeachtet unserer unterschiedlichen religiösen Überzeugungen werden wir für das Recht unserer jüdischen Brüder und Schwestern kämpfen, die Freiheit zu bewahren, die wir höher schätzen als das Leben selbst.« 32
Mittlerweile fühlte sich Rudy Biers Familie bei ihren Freunden auf dem Land nicht mehr sicher, und auch sie traten die Reise nach Schweden an: »Wir mußten mitten durch das Zentrum von Kopenhagen fahren. Und da passierte dieser unangenehme kleine Zwischenfall: Unser Fahrer bog falsch ab und blieb direkt vor dem deutschen Hauptquartier stehen. Erst waren wir ein bißchen erschrocken, aber dann wendete er, fand den richtigen Weg, und fort waren wir.« Man brachte die Biers an einen Ort, der 40 Kilometer südlich von Kopenhagen lag, da dort die Entfernung zwischen der dänischen und schwedischen Küste am größten war. Man hielt dies für den sichersten Ausgangspunkt für die Überfahrt. Nicht weit vor der Küste lagen zwei Schiffe, von denen jedes 200 Personen aufnehmen konnte. Die Biers wurden zu einem von ihnen mit dem Ruderboot gebracht, und um 23 Uhr fuhren sie los. »Wir waren auf dem offenen Deck«, erinnert sich Rudy. »Meine kleinen Geschwister bekamen irgendein leichtes Mittel, damit sie nicht weinten, und sie schliefen bald ein.« Nach einer ruhigen Überfahrt erreichten sie Schweden: »Als wir an Land kamen, war alles so anders. In Dänemark hatten wir Verdunkelung gehabt, aber in Schweden waren die Straßen hell erleuchtet. Und wir wurden so herzlich aufgenommen. Es wurde gesungen – die schwedische und die dänische Nationalhymne – und alle waren so glücklich, daß sie endlich außer Gefahr waren.« Die Schweden zeigten sich überaus hilfsbereit. Sie schickten beleuchtete Boote hinaus, damit die Flüchtlinge sicher die Küste erreichten, und am 2. Oktober hatte man im schwedischen Rundfunk bekanntgegeben, daß man alle dänischen Juden in Schweden willkommen heißen werde.
Rudy Biers Schicksal war keine Ausnahme: Die große Mehrheit der dänischen Juden entkam nach Schweden. Bei ihrem Großeinsatz in der Nacht des 1. Oktober nahmen die Deutschen 284 Juden fest 33 ; in den darauffolgenden Wochen faßten sie weniger als 200 Menschen auf der Flucht nach Schweden. Von den insgesamt 8000 dänischen Juden wurden also nicht mehr als 500 deportiert. Die Gefangenen wurden jedoch nicht nach Auschwitz, sondern in das Ghetto Theresienstadt in der Tschechoslowakei gebracht, wo sie zwar ein hartes, entbehrungsreiches Leben führten, aber der Selektion und dem Tod entgingen. Über 80 Prozent der deportierten dänischen Juden kehrten nach dem Kriegsende nach Hause zurück.
Angesichts der zahllosen Fälle von Verrat und Rache, die mit den Massendeportationen der Juden in anderen Ländern einhergingen, ist die Rettung der dänischen Juden natürlich eine wunderbare Geschichte. Doch wie die ambivalente Haltung der Deutschen zur Deportation der dänischen Juden beweist, verhielt sich die Sache komplizierter, als es zunächst scheint. Am deutlichsten zeigt sich dies natürlich an dem ungewöhnlichen Verhalten Werner Bests, der nicht nur die dänischen Juden warnte, sondern auch die Deportationspläne ausgesprochen halbherzig umsetzte. Abgesehen von einigen rigorosen Maßnahmen – darunter die Verhaftung von jüdischen Flüchtlingen in Helsingør durch Hans Juhl (»Gestapo-Juhl«) – ließen es die deutschen Sicherheitskräfte an der gewohnten Gewissenhaftigkeit und Einsatzbereitschaft fehlen. Rudy Bier bemerkt dazu: »Ich bin mir sicher, daß es für die Deutschen ein Kinderspiel gewesen wäre, das ganze Unternehmen auffliegen zu lassen, wenn sie es wirklich gewollt hätten. Die Wasserstraße zwischen Dänemark und Schweden ist nicht so breit und nicht so lang, daß man nicht mit vier oder fünf Torpedobooten der Sache hätte ein Ende setzen können.« Doch keines der Flüchtlingsboote wurde von deutschen Booten gestoppt.
Eine mögliche Erklärung für Werner Bests widersprüchliches Verhalten findet sich in einem Bericht, den er am 5. Oktober nach Berlin schickte: »Da das sachliche Ziel der
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