Auschwitz
deutschen Gefangenenlagern schon einiges durchgemacht hatten, waren sie bald fest entschlossen, dem Grauen in diesem Lager so schnell wie möglich zu entkommen. Ihre militärische Disziplin und die außergewöhnliche Persönlichkeit Sascha Pecherskys waren für den Erfolg des Unternehmens von entscheidender Bedeutung.
Die Mehrzahl der 300 aus Sobibór entkommenen Häftlinge überlebte den Krieg jedoch nicht. Viele irrten ziellos umher, verliefen sich im Wald und wurden binnen weniger Stunden gefaßt; andere wurden irgendwann von Polen verraten und den Deutschen übergeben. Sascha Pechersky und eine Handvoll seiner Kameraden stießen auf eine Gruppe kommunistischer Partisanen und schlossen sich später mit ihnen den vorrückenden sowjetischen Truppen an. Toivi Blatt erlebte noch einige riskante Abenteuer, geriet ein paarmal in lebensgefährliche Situationen, aus denen er sich nur dank hilfsbereiter Polen retten konnte, während andere ihm jede Unterstützung verweigerten. Nach dem Krieg beschloß er, in Amerika ein neues Leben anzufangen.
Himmler war durch die Revolte in Sobibór so alarmiert, daß er kurz darauf die Ermordung der Juden in den Lagern Trawnik, Poniatowa und Majdanek anordnete. Diese Vernichtungsaktionen, die am 3. November anliefen, gehörten zu den blutigsten der »Endlösung«. Ungefähr 43 000 Menschen wurden im Verlauf der Aktion »Erntefest« ermordet. In Majdanek stellten die Nationalsozialisten den traurigen Beweis an, daß es keiner technisch ausgefeilten Methoden bedurfte, um innerhalb kürzester Zeit eine große Zahl von Menschen zu töten: Allein an einem Tag wurden dort 17 000 Juden erschossen.
Die Massentötungen im November 1943 fanden zu einem Zeitpunkt statt, als der ursprüngliche Grund für die »Endlösung« hinfällig geworden war. Im Herbst 1941 und im Frühjahr 1942 verfolgte man mit dem Vernichtungsprogramm zumindest zum Teil das Ziel, neuen »Raum« für das neue deutsche Reich im Osten zu schaffen. Aber im Winter 1943, als sich abzeichnete, daß der Krieg verloren war, trat ein anderes Motiv in den Vordergrund: Rache. Nun ging es den Deutschen vor allem darum, zu verhindern, daß ihre größten Feinde vom Krieg profitierten, ganz gleich, wie er ausging. Natürlich stand hinter der Planung und Umsetzung der »Endlösung« immer auch das ideologisch begründete Ziel, die Juden auszurotten. Die Tatsache, daß auch die Juden Westeuropas in die Vernichtungspläne miteinbezogen wurden, beweist, daß es den Deutschen nicht nur um ihren wirtschaftlichen Gewinn und neuen »Lebensraum« ging. Doch erst jetzt, als sich der Traum von einer neuen »nationalsozialistischen Ordnung« im Osten zerschlug, lebten die Führer des Dritten Reichs ihren abgrundtiefen Haß in der Massenvernichtung der Juden aus.
Allerdings bereitete es den Deutschen zunehmende Probleme, die »Endlösung« außerhalb ihres unmittelbaren Machtbereichs umzusetzen. Während die bulgarische Regierung den Deutschen bereits 11 000 Juden aus den besetzten Gebieten Thrakien und Makedonien überlassen hatte, sperrte sie sich 1943 gegen die Forderung, Juden aus dem Kernland Bulgarien zu deportieren. Selbst der rumänische Führer Jion Antonescu, der sich an der Ermordung und Deportation der Juden Bessarabiens, Transnistriens und der Bukowina beteiligt hatte, weigerte sich nun, die verbliebene jüdische Bevölkerung Rumäniens in die Gaskammern von Bełżec zu schicken. In Italien hatte Mussolini zwar eine Reihe von antisemitischen Maßnahmen eingeleitet, hatte es aber bisher abgelehnt, die italienischen Juden auszuliefern. 28 Viele Verbündete Deutschlands glaubten nicht mehr daran, daß sie auf der Seite der Sieger standen. Solange sie davon ausgegangen waren, daß es ihren eigenen Interessen nützte, hatten sie die Nationalsozialisten bei der Judenverfolgung bereitwillig unterstützt; da dies nun nicht mehr der Fall war, begannen sie sich von der deutschen Judenpolitik zu distanzieren. Dieser Sinneswandel rührte also weniger von einem erwachenden Gewissen als von einem zynischen Pragmatismus her.
Von allen europäischen Ländern unter deutscher Besatzung blieb nur eines von der moralischen Zersetzungskraft der »Endlösung« unberührt: Dänemark. In einem beispiellosen Akt der Solidarität gelang es der dänischen Bevölkerung, 95 Prozent der Juden im Land vor den Deutschen in Sicherheit zu bringen. Die faszinierende Geschichte von der wunderbaren Rettung der dänischen Juden ist jedoch komplizierter, als es
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