Auschwitz
zunächst den Anschein hat.
Als Deutschland am 9. April 1942 Dänemark besetzte, zeigte sich sofort, daß die Dänen eine völlig andere Art von Besatzung erleben würden als das übrige Europa. Die wichtigsten dänischen Institutionen – Monarchie, Parlament und Polizei – blieben weitgehend unangetastet. Außerdem verlangten die Deutschen von den Dänen nicht, daß sie antisemitische Gesetze erließen, wie es andernorts der Fall war. Aus der Sicht der dänischen Regierung waren die 8000 Juden vollwertige Bürger ihres Landes und würden es auch bleiben. »Es gab nicht die geringste Diskriminierung«, berichtet der Däne Knud Dyby 29 , der damals Polizist war. »Die Juden waren völlig assimiliert. Sie hatten ihr Geschäfte und ihre Häuser wie jeder andere auch. Ich bin sicher, daß es in Dänemark viele Mischehen gab. Ein Mitglied meiner Familie heiratete zum Beispiel ein jüdisches Revuegirl.« Selbst gläubige Juden, die unter der deutschen Besatzung weiterhin ihre Religion aktiv ausübten, blieben unbehelligt. Bent Melchior 30 , der damals ein Schuljunge war, machte sich Sorgen, als die Deutschen kamen, denn sein Vater, ein Rabbi, hatte sich offen gegen die Nationalsozialisten ausgesprochen. Doch auch sein Vater bekam keinerlei Unannehmlichkeiten: »Wir gingen zur Schule, in die Synagoge, zu unseren kulturellen Veranstaltungen – unser ganzes Leben lief weiter wie bisher.«
Bent Melchior erinnert sich an eine außergewöhnliche Begebenheit, die veranschaulicht, welches Maß an Toleranz in der dänischen Gesellschaft herrschte. Sein Vater hatte einen schmalen Band mit Kommentaren zu den fünf Büchern Mose verfaßt, und da er wie alle Dänen den König sehr verehrte, beschloß er, diesem eine eigens für ihn gebundene Ausgabe zum Geschenk zu machen. Am Silvesterabend 1941 bat er Bents ältere Schwester, das Buch im Palast in Kopenhagen abzugeben. Genau in dem Moment, in dem sie dort eintraf, trat die Königin vor die Tür. Als sie Bents Schwester sah, fragte sie: »Ist das für meinen Mann?« »Ja, Eure Majestät«, antwortete das junge Mädchen und überreichte der Königin das Buch. Noch am selben Abend setzte König Christian X. ein Dankschreiben an Bents Vater auf, in dem er ihm und der jüdischen Gemeinde alles Gute für das neue Jahr wünschte. »Der Brief kam am 1. Januar 1942 an«, erzählt Bent Melchior. »Er machte auf die ganze Gemeinde einen großen Eindruck – unfaßbar, daß der König einem kleinen Rabbi, der ihm ein Buch geschenkt hat, einen Brief schreibt.«
Angesichts der antisemitischen Verfolgungen der Nationalsozialisten im übrigen Europa ist es kaum zu glauben, daß die Deutschen die tolerante Haltung der Dänen gegenüber ihren jüdischen Landsleuten duldeten. Doch dafür gab es gute Gründe: Zum einen wollten sie sicherstellen, daß die Lebensmittellieferungen aus Dänemark nicht beeinträchtigt wurden. Zum anderen erkannten sie den propagandistischen Nutzen, den die »vorbildliche« Besetzung eines »arischen« Nachbarlandes hatte, und nicht zuletzt waren sie an einem friedlichen Dänemark interessiert, das mit einem Minimum an Soldaten zu kontrollieren war. Diese Haltung sollte sich im Sommer und Herbst 1943 allerdings ändern. Mit der Niederlage von Stalingrad und dem Rückzug der deutschen Armee wuchs in Dänemark der Widerstand gegen die deutsche Besatzung: Es kam zu Sabotageakten und Massenstreiks. Daraufhin verlangten die Deutschen von der dänischen Regierung, drastische Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Als diese sich weigerte, riefen die Deutschen am 28. August den militärischen Ausnahmezustand aus und zwangen die Regierung zum Rücktritt.
Der deutsche Reichsbevollmächtigte Dr. Werner Best befand sich nun in einem Dilemma: Was sollte mit den dänischen Juden geschehen? Bests politischer Werdegang ließ nicht erwarten, daß er Erbarmen mit den Juden haben würde. Der ausgebildete Jurist war seit 1930 Mitglied der NSDAP und seit 1931 Angehöriger der SS. Als juristischer Berater der Gestapo hatte er direkt unter Reinhard Heydrich gearbeitet. Während seiner Tätigkeit im Reichssicherheitshauptamt war er für die Ermordung polnischer Intellektueller mitverantwortlich gewesen. In Frankreich hatte er die Verfolgung und Unterdrückung der französischen Juden mitinitiiert. Dieser überzeugte Nationalsozialist entschloß sich nun zu einem Schritt, den man nie von ihm erwartet hätte: Er würde die dänischen Juden warnen, indem er sie über Mittelsmänner von der
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