Auserwählt – Die Linie der Ewigen (German Edition)
meiner inneren Freude, dass das Thema nun ihm unbequem zu werden schien, denn er rutschte etwas unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
„Was ist los, Alan?“, fragte ich frech. „Es ist dir doch nicht etwa peinlich, zuzugeben, dass du nur mit Platzpatronen schießt? Das muss es nicht. Du weißt doch, die Ewigen nehmen Sex als etwas ganz Natürliches, dessen man sich nicht schämen muss.“
Ich wusste zwar, dass das richtig gemein war, aber in dem Moment hätte ich mir keine bessere Retourkutsche wünschen können, um von mir selber abzulenken. Wobei es sicher nicht klug war, den Tod auf seine eigene Unfruchtbarkeit anzusprechen, aber – scheiß die Wand an! – jetzt war es auch schon egal.
Alan fing an, mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln, sein Mund verzog sich zu einem breiten Schmunzeln, und als er seine Augen in meine Richtung hob, lag darin ein Feuer, das mir einen Schlag in meinen sowieso schon mitgenommenen Magen verpasste. Entweder hatte ich soeben etwas nahezu Heroisches vollbracht oder mein vorzeitiges Ableben heraufbeschworen.
„Du hast echt Mut, Aline, das muss ich dir lassen. Oder du bist einfach nur leichtsinnig. Aber egal ob so oder so, das imponiert mir. Du wagst es tatsächlich, mir die Stirn zu bieten, obwohl du weißt, was ich bin und was ich zu tun vermag. Und du hast die Courage, meinem Blick nicht auszuweichen. Das hat bisher noch keiner gewagt. Wenn du dich Mael gegenüber so verhalten hast, kann ich nur allzu gut nachvollziehen, warum er so aggressiv hinter dir her ist.“
Jetzt ging mir doch der Arsch auf Grundeis.
„Wieso?“
„Mael liebt es zu spielen“, antwortete Daron. „Er geht in seiner Aufgabe zu sehr auf, worauf unser Vater bereits seit einiger Zeit einen kritischen Blick hat. Er holt nicht einfach nur die Seelen auf die andere Seite, er lässt sie davor noch leiden. Eine Praxis, die bei uns allen mehr als verpönt ist. Wir sind Erlöser, keine Henker. Wir sind keine Katzen, die der Maus erst den Schwanz abbeißen, bevor sie sie irgendwann fressen. Mael dagegen liebt es, zu quälen. Auch wenn seine Menschen sich des Neides in höchstem Masse schuldig gemacht haben – das, was er mit ihnen treibt, hat wirklich keiner von ihnen verdient.“
Zum ersten Mal erkannte ich in den Gesichtern der Brüder etwas, das ich vorher noch nie gesehen hatte: Abscheu.
Abgrundtiefe Abscheu.
Wie grausam musste Mael sein, dass selbst seine Brüder von seinen Taten angewidert waren? Mir stellten sich meine Nackenhaare in blankem Entsetzen auf, als ich den Gedanken weiterspann, was er wohl alles mit mir angestellt hätte, wäre Daron nicht dazwischen gegangen.
Daron musste gemerkt haben, was in mir vorging, denn er drückte meine Hand und flüsterte beruhigend: „Er ist fort, er kann dir nichts mehr anhaben.“
„Aber … warum nur wollte er mir denn überhaupt etwas antun?“
Alan räusperte sich und holte sich durch ein Nicken Darons die Erlaubnis, den Faden aufzunehmen.
„Eine Bewahrerin ist erst dann offiziell als Gefährtin des reinen Todes anerkannt, wenn sie ein bestimmtes Aufnahmeritual, eine Art Prüfung durchlaufen hat. Solange ist sie vogelfrei, und es steht laut unserer Tradition jedem der anderen sieben Brüder zu, die Frau, die sich ihr jüngster Bruder erwählt hat, zu umwerben. Sollte es daraufhin zum Sex mit einem der anderen Brüder kommen, begeht sie eine Sünde.“
Ein Gedanke formte sich in meinem Kopf.
„Wollust …“, flüsterte ich, und Alan nickte.
„Genau. Gibt sie sich vor dem Ritual der Wollust mit einem Anderen hin, wird sie als zukünftige Mutter der nächsten Generation unbrauchbar. Nur eine wirklich reine Seele ist es würdig, den Samen des Todes zu empfangen und die nächsten acht Ewigen zu gebären. Sobald die acht Söhne das erste Mal ihre Kräfte erlebt haben, gehen sie sozusagen bei ihren Onkeln in die Lehre. Dort lernen sie bis zu ihrem achtzigsten Lebensjahr ihr Handwerk, wenn man das denn so nennen darf. Das Herüberbringen von Seelen ist eine recht komplizierte Angelegenheit, und es erfordert sehr viel Disziplin und Feingefühl, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Dazu gehören so viele Dinge, Aline, mit denen ich dich hier jetzt aber nicht belasten will. Ab dem achtzigsten Lebensjahr treten die Neffen an die Stelle ihrer Vorgänger und übernehmen fortan deren Amt. Wir sind mittlerweile dreihundertzehn Jahre alt und erledigen unsere Arbeit seit nunmehr zweihundertdreißig Jahren. Einige von uns warten schon länger darauf, in
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